Der Stein der Wikinger
hatte es seinem Vater nicht übel genommen, dass er die Krieger nicht mehr auf die Raubzüge begleiten wollte.
Am späten Nachmittag erreichten sie Almannagja, ein Labyrinth von zerklüfteten Schluchten am Ufer des Oxaca-Flusses. Sie gesellten sich zu den vielen anderen Nordmännern und ihren Familien, die sich im Schatten des schwarzen Rechtsfelsens, einer senkrecht aufragenden Felswand, versammelt hatten, und banden ihre Tiere in der Pferdeschlucht an. Der Name kam nicht von ungefähr, denn in dieser schmalen Schlucht ließen alle Teilnehmer ihre Pferde zurück. Ein Heer von Sklaven versorgte die vielen hundert Tiere.
Hakon war nicht zum ersten Mal in Thingvellir, blieb jedoch auch dieses Mal beeindruckt stehen und blickte auf den bunten Jahrmarkt, der die Ratsversammlung und die Rechtssprechung begleitete. Mehrere hundert Menschen tummelten sich vor den Verkaufsständen der Händler. Ein Mann in einem dunkelroten Wams pries den besten Lammeintopf an, ein Schwertschleifer beschwor die Männer, ihm einen winzigen Teil ihres Silbers für seine Dienste zu überlassen, ein Brauer verkaufte würziges Dünnbier. Aus einer der größeren Unterkünfte drangen laute Musik und derbes Lachen. Zwischen den Hütten und Zelten weideten Rinder und Schafe, und auf einer hölzernen Plattform stand ein Skalde und trug gestenreich ein Gedicht vor.
Alle Sippen hatten die behelfsmäßigen Unterkünfte bezogen, die man ihnen zugewiesen hatte, nach Distrikten geordnet, sodass Hakon und Gunnar ihren Verwandten leicht aus dem Weg gehen konnten. Sicherheitshalber nahmen sie den Weg am Ufer des Flusses entlang zu dem Platz zwischen den Felswänden, an dem die Lögretta des Landes tagte.
Lögretta war der Name der neununddreißig Vertreter, die im Namen des Volkes über das Schicksal des Landes und einzelner Verurteilter abstimmten. Mit ihnen saßen etliche Berater in dem weiten Rund. Auch Ivar der Einarmige gehörte einer reichen Familie an und war berechtigt, an dieser Versammlung teilzunehmen. Hakon erkannte ihn schon aus der Ferne an seinem Armstumpf. Wie ein nutzloses Stück Fleisch hing er von seiner Schulter. Hakons Miene verfinsterte sich. Er griff an die leere Schlinge, in der sonst sein Schwert hing, und fluchte, als ihm einfiel, dass er unbewaffnet war. Vielleicht war es doch besser so. Mit dem Schwert, so vermutete er, hätte er sich vielleicht brüllend auf Ivar gestürzt, um ihm das goldene Buch zu entreißen.
»Ich weiß, wie dir zumute ist«, sagte Gunnar. »Aber gegen diese Männer kommst du nicht an. Sie würden dich in der Luft zerreißen, wenn du die Nerven verlierst. Bleib ruhig, nur so hast vor dem weisen Rechtssprecher eine Chance. Sieh Ivar den Einarmigen am besten nicht an.«
Hakon war stehen geblieben. »Du verlangst viel von mir, mein Freund, aber du hast recht. Nur wenn ich ruhig und besonnen bleibe, erreiche ich mein großes Ziel. Begleitest du mich zur Anlegestelle, wenn sie mich verbannen?«
»Ich verspreche es dir, mein Freund.«
»Das ist gut«, erwiderte Hakon und ging mit festen Schritten auf die Männer der Lögretta zu. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, als er beobachtete, wie Ivar wütend von seiner Bank sprang und rief: »Da ist der Mörder!«
22
»Hört mich an!«, rief Gunnar, als sie sich den Männern der Lögretta näherten. »Ich bringe Euch Hakon, den Sohn des Knut. Es ist wahr, er hat Ingolf und Bekan getötet, beides Männer seiner eigenen Sippe, und er hat Ivar den Arm abgeschlagen, doch er ist freiwillig gekommen, um sich eurem Urteil zu stellen, und verdient eine gerechte Verhandlung. Seht her, ich brauchte den Gefangenen nicht einmal zu fesseln, sein Schwert hängt an meinem Gürtel.«
»Seit wann stehst du auf der Seite dieses Feiglings?«, erwiderte Ivar aufgebracht. Sein Gesicht war rot vor Zorn. »Wissen wir nicht alle, dass er Bekan auf gemeine Weise hintergangen hat? Hat er mich nicht auf Knien um Verzeihung gebeten, um mir im nächsten Augenblick den Arm abzuschlagen? Ohne den Mut zu besitzen, sich mir in einem Kampf zu stellen?«
»Das ist nicht wahr!«, rief Hakon. »Ich würde niemals einen Mann meiner Sippe angreifen, auch wenn du mich längst aus deinem Kreis verstoßen hast. Bekan wollte mich töten. Ich habe ihn in einem ehrlichen Kampf besiegt. Und dass ich dich niemals auf Knien um Gnade angefleht habe und wir einander in die Augen sahen, als ich deinen Arm abtrennte, weißt du am besten. Wenn ich dich nicht verbunden hätte, wärst du jetzt tot.«
»Lüge!
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