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Der Stein der Wikinger

Der Stein der Wikinger

Titel: Der Stein der Wikinger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Jeier
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noch jung war und im Langhaus seiner Sippe lebte. Ein Mann zog nur mit dem Jarl seiner Sippe in den Krieg. In Eisland hatte selbst der König nicht mehr Einfluss. Wenn man seiner Sippe entkommen wollte, blieb einem nur die Möglichkeit, die Heimat zu verlassen. So wie seine Eltern, die vor vierzig Wintern aus ihrer alten Heimat in Norwegen weggezogen waren.
    Eine Welle schleuderte ihm die Kiste aus den Händen, und er musste einige kräftige Kraulschläge machen, um sie wieder zu erreichen. Der Wind hatte etwas aufgefrischt, zauberte weiße Schaumkronen auf das Meer. Es roch nach Regen. Im Westen hingen dunkle Wolken am Himmel und kamen stetig näher. Noch donnerte Thor nicht mit seinem zweirädrigen Wagen über die Erde, aber lange würde er nicht mehr warten. Wenn es zu einem Unwetter kam, waren seine Chancen, dem Meer zu entkommen, noch geringer. In den stürmischen Wellen würde er die Kiste nicht mehr halten können und rettungslos in den Fluten versinken. »Warum verschonst du mich nicht, Thor?«, rief er dem Gott der Winde und des Regens entgegen.
    Er blickte zur blassen Sonne empor und stellte fest, dass er nach Süden getrieben wurde, weg von der feindlichen Küste und seiner Heimat in Eisland. Er trieb in einem riesigen Niemandsland, das keinen Anfang und kein Ende hatte. Keine Möwe und kein treibendes Blatt, die ihm zeigen könnten, dass die Strömung ihn am Festland vorbeitreiben würde. Weder ein feindliches noch ein vertrautes rotes oder rot-weiß gestreiftes Segel tauchte am Horizont auf. Wie lange würde es noch dauern, bis die Nacht hereinbrach und er in tiefster Dunkelheit dahintrieb? Wie lange, bis es zu regnen begann? Wie lange, bis seine Kräfte erlahmten und er die rettende Kiste losließ? Wie lange noch?
    Stunde um Stunde verging. Der Wind wurde stürmischer, das Meer unruhiger, seine Kräfte nahmen ab. Es fiel ihm immer schwerer, sich an die Kiste zu klammern. Das Wasser wurde kälter und ließ seine Muskeln steif werden. Anscheinend trieb er in kältere Strömungen ab. Dort würde er nicht lange überleben. Die niedrigen Temperaturen würden seinen Körper erstarren lassen und ihm den Tod bringen. Ein gnadenvoller Tod, wie er gehört hatte, aber wer vermochte das schon genau zu sagen?
    Sein Durst nahm zu, wurde gegen Abend beinahe unerträglich und quälte ihn mit Trugbildern von klaren Bergseen und vollen Wasserfässern. Der Wind schien ihn mit seinem Pfeifen, das Meer mit seinem Rauschen zu verhöhnen. Er spürte seine Hände nicht mehr, hatte keine Ahnung, ob er sich noch an der Kiste festhielt oder ohne einen Halt im Wasser trieb. Seine Augen fielen zu. In der Dunkelheit sah er plötzlich ihr Gesicht, die glutvollen Augen, die hohen Wangenknochen, die sanften Lippen, und er hörte ihre Stimme, als sie mit leiser Stimme seinen Namen rief. Ihr Lächeln war so zuversichtlich, dass er neue Kräfte mobilisierte, noch einmal die Augen öffnete und ein fernes Segel in der Dämmerung sah.
    Er wollte schreien, um sich bemerkbar machen, doch es kam nur ein leises Krächzen über seine Lippen. Um einen Arm zu heben und zu winken, war er viel zu schwach. Das Schiff fuhr in seine Richtung. Wenn es den Kurs beibehielt, mussten der Mann am Bug oder der Steuermann ihn sehen. Beeilt euch, flehte Hakon in Gedanken, fahrt schneller! Krampfhaft hielt er seine Augen offen, längst schmerzten sie vom anstrengenden Ausschauhalten, vom Salzwasser und von der Müdigkeit. Zu langsam, dachte er besorgt, sie sind zu langsam. Schon kündigte sich die Dämmerung am westlichen Horizont an. Die dunklen Wolken waren näher gekommen und die ersten Regentropfen fielen. »Es ist vorbei«, seufzte er, »es ist vorbei.«
    Seine Augen waren längst wieder geschlossen, und er war gerade dabei, das Bewusstsein zu verlieren, als das Schiff ganz nahe kam und eine Stimme rief: »Seht doch! Da schwimmt jemand im Wasser!«
    Alles andere nahm Hakon in seiner Benommenheit nur noch undeutlich wahr. Der laute Befehl des Jarls, mit den Rudern gegenzusteuern, die kräftigen Arme des Steuermannes, der ihn an Bord hievte, die groß gewachsene Frau an einem der Ruder, die Männer, die ihn in den Frachtraum der Knorr trugen, ihn auszogen, abtrockneten, ihm eine Hose, ein Arbeitswams und Schuhe anzogen und auf ein Bärenfell legten. Um ihn herum waren Kisten, Fässer und Säcke unter einer Tierhaut gestapelt, und es roch nach Honig, Teer und Gewürzen. Das Schnauben einiger Pferde war zu hören. Das hübsche Gesicht eines Mädchens erschien

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