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Der steinerne Engel

Titel: Der steinerne Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol O'Connell
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und in einen Abgrund gefahren hätte, wohl davon ausgegangen, dass sie einfach einen schlechten Tag gehabt hatte.
     
    Charles verließ das Rathaus, als er die Frau in mittleren Jahren aus dem Durchgang kommen sah. Knapp einen Meter vor den steinernen Stufen blieb sie stehen. Ihm fiel zuerst ihr Haar auf. Es war schwarz gefärbt, aber irgendwas musste dabei schief gegangen sein, denn es schimmerte jetzt in einem dunklen Lila. Die Frau drehte sich verwirrt um die eigene Achse und sah suchend zum Himmel, als könne der ihr die Richtung weisen. Unter einem Kleid, das in die Wäsche gehört hätte, sah der Unterrock hervor. Ihr Gesicht war nass von Tränen und voll tiefer Kummerfalten. Den Mund hatte sie wie zu einem Schrei aufgerissen, als sie wie gehetzt zur anderen Seite des Marktplatzes lief.
    Eine untersetzte, hoch gewachsene Frau mit einer Schürze tauchte mit einem Tablett auf den Rathausstufen neben Charles auf.
    »Alma«, rief sie der Frau zu, aber die lilahaarige Alma drehte sich nicht um. Die Frau mit der Schürze zuckte die Schultern und ging mit ihrem Tablett zu Jane’s Café, in dem Darlene mit Ira verschwunden war.
    Als Charles sich wieder dem Durchgang zuwandte, sah er Henry Roth herauskommen. Der Stumme blickte der flüchtenden Frau lächelnd nach, als sei er sehr zufrieden. Charles hatte das Gefühl, dass die Welt an diesem Tag ganz und gar aus den Fugen geraten war. Angesichts der offenkundigen Verzweiflung dieser armen Person war Henry Roths Lächeln sehr beunruhigend, denn es passte nicht zu dem Künstler, so wie Charles ihn bisher eingeschätzt hatte.
    Henry verabschiedete sich mit einem diskreten Wink von Charles und ging zu seinem Pick-up, aufmerksam beobachtet von dem Mann auf der Bank, der dem verstorbenen Babe Laurie so ähnlich sah und jetzt Charles musterte. Mit einem Nicken wiederholte er seine Aufforderung, sich zu ihm zu setzen und ein wenig zu plaudern.
    Doch etwas hatte sich geändert. Der Blick war nicht mehr heiter und gelassen, sondern voller Feuer, und sein Lächeln war das eines hübschen, ungebändigten Kindes. Eine Haarsträhne fiel ihm über ein Auge. Sein Grinsen bedeutete Charles, dass er ihm gern ein Kartenkunststück beibringen oder ein Geheimnis verraten wolle. Komm zu mir. Wir werden großartige Dinge miteinander anstellen, war seine Botschaft – und Charles konnte ihr nicht widerstehen: Langsam ging er auf die Bank zu.
    Dann blieb er stehen wie vor einer Mauer.
    Dies war kein harmloser barfüßiger Junge, sondern ein ausgewachsener Mann mit schweren Stiefeln, offenbar mit allen Wassern gewaschen. Ein begnadeter Schauspieler, der mindestens zwei Rollen beherrschte.
    Charles fand, dass er sich beim Sheriff gut geschlagen hatte, aber bei einem Mann, der aus List und Falschheit eine Kunst machte, mochte er nichts riskieren. Deshalb nickte er ihm nur kurz zu, hob entschuldigend die Schultern und steuerte Jane’s Café an.

6
    Telefon- und Elektrokabel waren hinter dem Haus versteckt. Keine störenden Hinweise auf die moderne Zeit verunstalteten die historische Fassade. Selbst das wellige Fensterglas in Jane’s Café war originalgetreu. Hinter diesem Fenster saßen Mutter und Sohn Wooley an einem Tisch mit burgunderroter Decke und blütenweißen Servietten.
    Entzückend.
    In der Gaststube allerdings wurde Charles wieder in die Gegenwart versetzt. Eine dicke Kaffeemaschine gurgelte den Takt zu Softrockmusik. An der hinteren Wand war ein langes Büffet mit viel Edelstahl und Glas aufgebaut, an dem man sich mit den verschiedensten Salaten, Brotsorten und Aufschnitt bedienen konnte, um dann mit seinem Tablett zur elektronischen Kasse zu gehen. Die blütenweißen Servietten waren aus Papier, die roten Tischtücher abwaschbares Plastik aus dem späten zwanzigsten Jahrhundert.
    Er stellte sich eine Auswahl von Sandwichbelägen, Gewürzen und Grünzeug zusammen, zahlte und setzte sich an einen Tisch, der dicht neben dem von Darlene und Ira Wooley stand. Darlene sprach in beruhigend-mütterlichem Ton auf Ira ein, doch der hörte nicht zu, sondern war intensiv damit beschäftigt, auf einer Scheibe Roggenbrot einen Turm aus Essbarem zu errichten.
    Sanft wies Darlene auf all das hin, was Iras Allergien auslösen konnte, und nahm die gefährlichen Zutaten heraus. Der Junge betrachtete seine zerstörte Sandwichkonstruktion einen Augenblick lang schweigend. Charles machte sich schon auf einen der für Autisten typischen lautstarken Wutanfälle gefasst. Ira aber nahm nur ganz ruhig das

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