Der steinerne Engel
deshalb hätte ich eher auf einen Autisten getippt.«
Charles begriff, dass er dem Sheriff etwas sagte, das der längst wusste. Und dass er so etwas wie eine Prüfung bestanden und Tom Jessops Argwohn zerstreut hatte.
Ira und seine Mutter waren durch die Tür unter dem Schild ›Jane’s Café‹ verschwunden. »Vor Jahren hat so eine blöde Lehrerin ihn einen idiot savant genannt«, erklärte der Sheriff, »und das hängt ihm immer noch an. Die meisten Leute haben sich allerdings nur den Idioten gemerkt und vergessen, dass Ira je einen anderen Namen hatte. Mistbande.«
Er betrachtete Charles jetzt merklich wohlwollender. »Wir hatten noch ein außergewöhnliches Talent, das Ihnen womöglich noch besser gefallen hätte. Der verstorbene Babe Laurie war der geborene Redner. Er hat schon mit fünf Jahren gepredigt. Wetten, dass Ihnen so eine solche Begabung noch nie untergekommen ist?«
Der Sheriff hätte die Wette verloren. In den Präriestaaten gab es solche Talente so häufig wie Kieselsteine am Meer. Die beachtlichere und seltenere Begabung war die von Ira. Die idiots savants , die »weisen Idioten«, hatten Charles schon immer fasziniert. Noch mehr aber interessierte ihn Iras Verbindung mit Mallory, seine Rolle in der Kette sonderbarer Ereignisse, die sich innerhalb einer Stunde nach Mallorys Heimkehr zugetragen hatten.
Lilith Beaudare kam mit einer Hand voll Faxe herein. Sie sah Charles nicht an und ließ sich nicht anmerken, dass sie sich kannten. Auch das war sonderbar.
»Der Auslieferungsantrag für Mrs. Laurie ist genehmigt«, sagte sie und legte die Blätter auf den Schreibtisch des Sheriffs. »Sie ist eingeknickt und hat auf ihre Rechte verzichtet. Die Polizei von Georgia sagt, dass wir sie übermorgen am Flughafen abholen können. Wenn Sie sie über Nacht in Haft behalten wollen, muss ich die Sozialstation anrufen, damit die sich um den Sohn kümmern.«
»Nicht nötig. Mit Sally Laurie bin ich, wenn’s hoch kommt, in fünf Minuten fertig. Ich hab sie nur zurückgeholt, weil ich so sauer war, dass sie abgehauen ist.« Der Sheriff raschelte mit den Faxen und gab sie Lilith zurück. »Ablegen oder verbrennen.«
Sie zögerte, fand aber keinen Vorwand, noch länger im Zimmer zu bleiben, und zog sich widerwillig zurück.
»Und mach die Tür zu, Mädel!«, rief ihr der Sheriff nach. »Babes Witwe ist am Tag des Mordes mit ihrem Kind verduftet«, erläuterte er. »Innerhalb eines Vormittags hab ich sie aufgespürt. Nicht schlecht für einen Provinzsheriff, was?«
Charles ließ die Gelegenheit, dem Sheriff ein bisschen Honig ums Maul zu schmieren, ungenutzt verstreichen, was ganz in Mallorys Sinn gewesen wäre. »Niemals schleimen!«, war ihr Wahlspruch. »Der Tote hatte also Frau und Kind«, stellte Charles fest.
»Zumindest hat die Witwe des Toten einen Sohn.«
»Der nicht Babe Lauries Sohn ist?«
»So wird gemunkelt. Babe und seine Frau haben große blaue Augen, der Junge hat kleine braune Schlitzaugen. Wie der Zufall so spielt: Auch Babes Bruder Fred hat kleine braune Schlitzaugen.«
»Genetisch ist es durchaus möglich, dass …«
»Geschenkt, Mr. Butler. In einem so kleinen Nest ist mit knallharter Wissenschaft nichts zu machen. Auf dem Schild am Highway steht, dass wir elfhundert Einwohner haben, aber das ist schamlos übertrieben. Es sind höchstens neunhundert.«
Und wenn in einer Kleinstadt ein Verbrechen geschah, wurden immer zuerst die Fremden verdächtigt. Charles verzichtete darauf, sich für Mallory in die Bresche zu werfen, obgleich er dem Sheriff sehr gern gesagt hätte, dass sie aus den verschiedensten Gründen auf der Verdächtigenliste ganz weit unten stand.
»Sie müssen stark unter Druck stehen, Sheriff.«
»Druck?«
»Die Medien …«
Darüber konnte der Sheriff nur lachen. »Dass ein Mann einen Stein auf den Kopf gekriegt hat und daran gestorben ist, eignet sich nicht als Aufmacher für die Abendnachrichten. Mit so einem simplen Mord kann kein Reporter was anfangen.«
»Aber er war der Anführer einer religiösen Vereinigung.«
»Er war die Hauptattraktion einer Predigersekte, die sich Neue Kirche nennt. Die einzige Publicity, die ihm die Sache eingebracht hat, ist ein Hinweis auf Bettys Besichtigungstour. Vielleicht werden dadurch ein paar Souvenirs mehr im Drugstore verkauft. Schön für Betty – wahrscheinlich ist sie am Umsatz beteiligt.«
Wie peinlich für Mallory, in einen mittelmäßigen Mord verwickelt zu sein! »Ich würde jetzt gern mit ihr
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