Der steinerne Engel
Sandwich wieder auseinander, griff sich eine Scheibe Brot vom Tablett seiner Mutter und fing noch einmal von vorn an. Das tat er trotz der verbundenen Hände und der zwei geschienten Finger schnell und geschickt, seine motorischen Fähigkeiten waren demnach nicht beeinträchtigt. Charles sah zu, wie Ira Sardinen in einer geraden Linie über das mit Senf bestrichene Brot legte.
Darlene Wooley warf – ganz fürsorgliche Mutter – Charles einen misstrauischen Blick zu.
»Verzeihen Sie meine Neugier«, sagte Charles, »aber Sandwiches sind mein Hobby.«
Ira sah kurz auf, als Charles Senf auf eine Pumpernickelscheibe strich und sie mit roten Streifen aus der Ketchupflasche verzierte. Dann griff er in die Salatschale seiner Mutter, holte die Karottenstreifen heraus und legte sie über seinen Sardinen zu einem Kreuzgitter.
Charles ordnete auf seinen Ketchupstreifen Croutons im Kreis an. Daraufhin legte Ira ein Schinkenquadrat auf seine Karotten. Charles legte zwei Scheiben Käse so, dass ein achtzackiger Stern entstand. Ira konterte mit einem Dreieck aus Frischkäse über dem Schinken.
Darlene musste unwillkürlich lächeln, als sie die beiden bei ihrem Sandwichdialog beobachtete.
Charles türmte seine Zutaten immer schneller immer höher. Ira nahm die Herausforderung an, beendete seinen Bau als Erster und schloss mit einer Scheibe Weißbrot ab.
Charles applaudierte dem Gewinner, und Iras Mutter lachte und klatschte ebenfalls. Es schien ein ungewohnter Moment der Entspannung für sie zu sein. Er registrierte die abgebissenen Nägel, die roten Äderchen in den Augen und die steile Stirnfalte, verräterische Anzeichen des belastenden Lebens mit einem autistischen Kind.
Geistig allerdings war ihr Sohn offenbar hellwach. Charles überlegte, ob Ira sich auszudrücken verstand. Bei vielen autistischen Menschen war das nicht der Fall. Sie waren in ihren Verhaltensweisen so unterschiedlich wie Schneeflockenmuster.
Ira beschäftigte sich wieder mit seinem Essen und sah nicht auf, als seine Mutter sich mit Charles bekannt machte und auch den Namen ihres Sohnes nannte. Sein Blick ging ins Leere.
Nachdem Charles gestanden hatte, dass er sich von Berufs wegen für autistische Menschen interessierte, erfuhr er, dass das Essen in Jane’s Café zu Iras Verhaltenstherapie gehörte. Er nickte anerkennend. Da sie so häufig hier aßen, hatte Ira sich inzwischen an das Stimmengewirr, das Kommen und Gehen und den Anblick von Fremden gewöhnt.
»Es gibt am Ort kein Therapieprogramm für Autisten, deshalb geht Ira viermal in der Woche in eine staatliche Schule für geistig Behinderte.«
»Immer noch besser als überhaupt keine Therapie«, meinte Charles. Er wusste, dass dieses Vorgehen durchaus üblich war. Verständnisvolle Ärzte vermerkten als Diagnose statt Autismus einen geistigen Defekt, um ihren Patienten Zugang zu einem Therapieprogramm zu verschaffen. »Vermutlich sind die Methoden recht ähnlich. Lernen durch ständige Wiederholung von Aufgaben …«
»Ja, und sie geben sich mit Ira besondere Mühe. Ich habe versucht, ihn in einer privaten Therapieeinrichtung in New Orleans unterzubringen, aber dort hat er die Aufnahmekriterien nicht erfüllt.«
Schließlich kam das Gespräch auf das, was Charles hier in Dayborn zu erledigen hoffte. »Augusta Trebec glaubt, dass die junge Frau, die hier einsitzt, die Tochter von Cass Shelley sein könnte. Und als Testamentsvollstreckerin …«
»Wer sonst könnte das Mädchen wohl sein, Mr. Butler?«
Sie erzählte, wie Mallory an dem Mordtag in Dayborn angekommen war. »Sie ist mit dem Taxi am Hotel vorgefahren.«
Darlene hatte mit Betty Haie, der Besitzerin, mit der sie befreundet war, auf der Veranda gesessen. »Sie war ihrer Mutter unheimlich ähnlich. So ein Gesicht vergisst man auch ohne die Figur auf dem Friedhof nicht.«
Babe Laurie hatte Mallory ebenfalls gesehen, riesengroße Augen und Schlingerbewegungen wie ein Betrunkener gemacht. »Und dann hat sich Babe, während die junge Frau ins Hotel ging, auf den Brunnenrand gesetzt. Nach einer Weile ist sein Bruder Malcolm gekommen, um ihn abzuholen, aber er wollte nicht weg, und sie sind sich in die Haare geraten.«
Darlenes Sohn war inzwischen heimgegangen. »Und dann hab ich gehört, wie Ira am Klavier immer wieder dieselbe kurze Tonfolge spielte. Das hat Babe rasend gemacht. Er ist in mein Haus gestürmt, sein Bruder hinterher. Ich war total perplex, dass er so mir nichts, dir nichts in ein fremdes Haus eindringt, und bin
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