Der steinerne Engel
sprechen.«
Der Sheriff führte ihn ins Vorzimmer und übergab ihn dort Lilith. Charles folgte ihr die Treppe hinauf. Als sie ihm die Tür öffnete, brach er das unbehagliche Schweigen. »Wollen Sie nicht überprüfen, ob ich eine gefährliche Waffe bei mir habe?«
Der Blick, mit dem sie ihn ansah, war fast beleidigend. Wahrscheinlich dachte sie, dass er bei einem Revolver nicht mal hätte sagen können, was vorn und hinten war. Sie blieb an der Tür stehen, während er durch den schmalen Gang des Zellenblocks ging. Er hatte damit gerechnet, Mallory in einer kalten, unpersönlichen Zelle vorzufinden, und staunte über das Bild, das sich ihm bot. An einer Wand hing ein kitschiges goldgerahmtes Landschaftsbild, vor einem ausladenden Lehnsessel lag ein Flickenteppich, auf dem Bett leuchtete eine bunte Patchworkdecke, und in einem Krug auf der kleinen Kommode standen frische Veilchen. Wenn man von den Gittern an Tür und Fenstern absah, wirkte alles sehr gemütlich.
Mallory tat ihm in diesem Augenblick fast Leid. Räume, in denen sie sich wohl fühlte, mussten von äußerster Schlichtheit, die Blazer, die sie zu Jeans trug, von erstklassigem Schnitt sein. Der Baumwollkittel war sicher demütigend für sie. Aber als sie zu ihm aufsah, war sie nur wütend.
Er hatte Lilith Beaudare den Rücken gekehrt und nahm ihr damit die Sicht auf Mallory. »Augusta Trebec hat mich gebeten festzustellen, ob Sie die gesetzliche Erbin von Cass Shelley sind.« Seine Hände sagten: »Ich will dir nur helfen. Sag, was ich für dich tun kann.«
»Hauen Sie ab«, sagte Mallory. » Hau ab«, sagten ihre Hände.
»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich wenigstens anhören würden.« Er bewegte, damit Lilith keinen Verdacht schöpfte, nur die Finger. »Lass mich Riker oder Jack Coffey anrufen, die können was tun.«
»Nein«, sagte sie.»Kommt überhaupt nicht in Frage«, sagten ihre Hände und ihr wütendes Gesicht. »Bist du verrückt? Das sind doch Cops!«
»Aber du bist doch auch von der Polizei.« Stimmte das eigentlich noch? Sie war zwar noch nicht offiziell bei der Polizei von New York City ausgeschieden, hatte aber ihre Dienstmarke und die Dienstwaffe, einen.38er Revolver, in New York gelassen. Seit jeher trug sie lieber ihre eigene Waffe, das Mordstrumm von Kanone, wie der Sheriff sie genannt hatte. Wenn sie kein Cop mehr war – was war sie dann?
Der Ausdruck »Vagabundin« kam ihm in den Sinn, ein Wort, das in vielerlei Hinsicht auf sie passte.
»Gehen Sie weg und lassen Sie mich in Ruhe«, sagte sie.
»Ich lass dich nicht in einer Gefängniszelle sitzen.«
»Da bleib ich sowieso nicht lange. Geh jetzt.«
Laut sagte er: »Ich könnte Ihnen einen Anwalt besorgen.«
»Ich brauche keinen Anwalt.« Sie stand auf und trat dicht ans Gitter. »Sie haben kein Motiv, aber darauf kommt der Sheriff möglicherweise noch. Er ist clever, du darfst ihn nicht unterschätzen.«
»Wenn du das sagst, ist das ein dickes Lob.« Er reichte ihr die Rechnung für einen Ölwechsel in der Werkstatt und die Garantie für den neuen Transmissionsriemen. »Das sind die Unterlagen über den Nachlass und eine Vollmacht. Bitte lesen Sie alles durch. Ich brauche Ihre Unterschrift.«
Sie schob sich die Papiere in den Ausschnitt, um die Hände zum Sprechen frei zu haben. »Du musst jetzt gehen. Du kannst mir nicht helfen. Wenn du in Dayborn bleibst, machst du alles kaputt.«
Er wusste, wie sie es meinte: Dass er mit der Unerfahrenheit eines ehrlichen Mannes jeden Versuch einer Täuschung zunichte machen würde und dass mit einem Mann, dem sie nichts Niederträchtiges oder auch nur entfernt Anrüchiges zutraute, deshalb im Grunde auch nichts anzufangen war.
»Ich habe gerade den Sheriff angeschwindelt«, sagte er in der Hoffnung, damit in ihrer Achtung zu steigen.
Mallory zuckte peinlich berührt zusammen und überlegte wahrscheinlich, wie viel Schaden er schon angerichtet hatte.
Sie gab ihm die Papiere zurück. »Ich hab’s gelesen. Und jetzt verziehen Sie sich.« Sie berührte durch das Gitter hindurch seine Hand. »Du hast mich nicht gefragt, ob ich den Mann umgebracht
habe«, sagten ihre Hände.
Wenn er sie so ansah, traute er es ihr fast zu. Vielleicht wegen ihres beunruhigenden Lächelns. Jetzt stand eine Frage in ihren Augen.
Man konnte von Mallory nicht behaupten, dass sie unmöglich einen Menschen hätte töten können. Aber weil er seine Freundschaften so ernst nahm, wäre er, wenn sie einen Schulbus voller Nonnen und Waisen angezündet
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