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Der steinerne Engel

Titel: Der steinerne Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol O'Connell
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gleich aufgestanden, um nachzusehen, was los war. Und dann hörte die Musik auf, und mein Sohn fing an zu schreien. Unter der Tür stieß ich mit den Lauries zusammen, die gerade herauskamen, und am Klavier saß Ira mit kaputten Händen, und die Klaviertasten waren rot von Blut.«
    Charles sah rasch zu Ira hin, weil ihn dessen Reaktion auf den Bericht über einen traumatischen Tag interessierte, aber es schien, als habe der Junge sie gar nicht gehört. Er dachte vermutlich nicht in Worten, sondern in einer Flut von Bildern. Das Aufnehmen und Verstehen gesprochener Worte ist für Autisten vergleichbar mit der Anstrengung, eine zweite Sprache zu lernen. Im Augenblick war das Essen für Ira reizvoller, vielleicht aber reagierte er auf Musik, eine Sprache, die ihm mehr zusagte als das gesprochene Wort.
    Charles wandte sich an Ira. »Könntest du die Melodie summen, die du auf dem Klavier gespielt hast?«
    Die Mutter antwortete an seiner Stelle. »Er führt keine normalen Gespräche mehr. Als kleiner Junge hat er viel gesprochen, aber jetzt wiederholt er nur, was er hört. Man nennt das Echolalie. Deshalb haben sie ihn nicht für das Therapieprogramm in New Orleans genommen.«
    Das sah Charles ein. In einer Therapie für Fortgeschrittene wurde Kommunikationsfähigkeit vorausgesetzt. Allerdings betrachteten manche Therapeuten die Echolalie auch als eine Reaktion auf ein Gespräch, eine Art Abkürzung.
    »Können Sie sich noch an die Melodie erinnern?«
    Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, ich bin total unmusikalisch. Das einzige musikalische Talent in unserer Familie ist mein Sohn. Wenn man ihn an ein Klavier setzt, spielt er drauflos, aber nicht das, worum man ihn bittet, sondern nur das, was er will. Und wenn er Lust hat, singt er auch. Er hat die schönste Stimme, die man sich vorstellen kann.« Sie sah auf ihre zerbissenen Fingernägel hinunter. »Jetzt denken Sie bestimmt, dass da nur die Mutter aus mir spricht …«
    »Nein, gar nicht. Der Sheriff hat Iras Talent sehr gelobt.«
    Sie lächelte ein bisschen verlegen und versteckte die Hände unter dem Tisch. »Manchmal, wenn die Fenster offen sind, bleiben Menschen und Tiere auf dem Marktplatz stehen und hören zu, wenn mein Sohn singt. Stumm und regungslos wie in der Kirche. Ich habe schon Leute weinen sehen, wenn Iras Lied zu Ende war.«
    Eine bessere Bestätigung konnte er sich nicht wünschen: Der Sheriff hatte also Iras Begabung zutreffend geschildert. Charles war fasziniert von diesem seltenen Talent. Die schöne Stimme war demnach von den Eigentümlichkeiten und Geheimnissen des Autismus unberührt geblieben. Die Ursprünge dieser Krankheit waren unbekannt, die Symptome entwickelten sich nach der Geburt, das Gesangstalent aber brachte der Mensch schon mit auf die Welt.
    Ira war jetzt mit seinem Sandwich fertig und ließ seine Hände kreisen, während er sich auf seinem Stuhl vor und zurück wiegte. Charles sah darin einen Versuch des jungen Mannes, sich zu beruhigen. Aber warum? Bis eben hatte er noch keine Anzeichen von Nervosität gezeigt.
    Darlene legte eine Hand über die kreisenden Hände ihres Sohnes, ohne sie zu berühren. »Was ist los, mein Schatz?«
    »Was ist los«, wiederholte Ira und sah zum Eingang.
    Charles und Darlene drehten sich gleichzeitig zu dem Mann um, der in der Tür stand. Es war der Mann mit den zwei Gesichtern, der Verwandlungskünstler. Er hatte die Hand zum Gruß erhoben und lächelte Darlene zu.
    Mit unbewegtem Gesicht griff sie nach ihrer Handtasche, winkte ihrem Sohn und verließ mit einem kurzen Gruß das Café.
    Der Mann suchte, während Darlene und Ira an ihm vorbeigingen, den Blick von Charles, trat an seinen Tisch und streckte ihm die Hand hin. »Mein Name ist Malcolm Laurie. Sagen Sie Malcolm zu mir.« Das war nicht so sehr eine Bitte als ein Befehl. »Darf ich mich zu Ihnen setzen?«
    »Ja, natürlich.« Charles schüttelte die Hand, die ihm geboten wurde. »Sie sehen Babe Laurie sehr ähnlich.«
    »Er war mein Bruder.« Malcolm Laurie gab sich so lässig locker, als sitze er in seinem eigenen Esszimmer.
    »Mein Beileid«, sagte Charles.
    »Danke, Mr …?«
    »Butler.« Er verzichtete ausnahmsweise darauf, seinen Vornamen zu nennen, denn er empfand das Bedürfnis, diesen Mann höflich auf Distanz zu halten. Als Malcolm sich vorbeugte, rückte Charles im Geist ein Stück zurück. »Wie ich höre, ist Ihr Bruder als Wanderprediger durchs Land gezogen?«
    »Mit uns zusammen. Es ist ein Familienunternehmen.« Malcolm

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