Der steinerne Engel
befürchten ist.«
»Wenn die Frau in der Zelle Kathy ist, weißt du ganz genau, dass sie noch nicht mal sieben war, als sie damals geflüchtet ist.«
»Spielt keine Rolle. Aber reg dich nicht auf, noch habe ich keine Anklage erhoben. Wenn du willst, schau ich mir auch dein Alibi noch mal an. Ich wäre ja gern bereit, dich einzusperren, damit du Ruhe gibst, aber wer kümmert sich dann um Ira?«
Darlene stopfte ihr Scheckbuch wieder in die Tasche und wandte sich an ihren Sohn. »Ira, wir gehen.«
Der junge Mann sah unverwandt zur Decke. Darlene schwenkte eine Hand vor seinen Augen, um seinen Blick von dem Deckenventilator abzulenken. Ohne ihn zu berühren, scheuchte sie ihn mit beiden Händen zur Tür.
Als sie Charles sah, der mit seinen fast zwei Metern den Ausgang blockierte, fuhr sie zusammen. Ein Mann wie er war so unübersehbar wie ein Grizzlybär in der Duschkabine.
»Guten Tag. Mein Name ist Charles Butler.« Dass normal große Menschen zu ihm aufsehen mussten, war ihm immer ein bisschen peinlich. »Ich bin wegen einer gewissen Mallory hier.«
»Was Sie nicht sagen«, schnauzte der Sheriff, aber Charles hatte den Eindruck, dass er ganz froh war, Mutter und Sohn loszuwerden. Er schloss die Tür hinter den beiden und wandte sich an seinen nächsten Besucher. »Sie sind aus New York, stimmt’s?«
»Ja«, sagte Charles, der in seinem Savile-Row-Anzug, handgefertigten italienischen Schuhen, einem Oxfordhemd und einer Seidenkrawatte aus der Galerie Lafayette in Paris vor ihm stand. »Wie kommen Sie darauf?«
»Hab vor Bettys Hotel das Nummernschild gesehen. Der Wagen passt zu Ihrem Anzug.« Sheriff Jessop setzte sich und bedeutete Charles, auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Dann entnahm er einem abgegriffenen Umschlag mit verblasster blauer Aufschrift ein vergilbtes Blatt Papier, an das ein Foto geheftet war. Charles erkannte es auf den ersten Blick: Mallory als Kind. Louis Markowitz, ihr Pflegevater, hatte bis zu seinem Todestag ein ganz ähnliches Bild in seiner Brieftasche bei sich getragen.
»Als kleines Mädchen hieß sie Kathy Shelley.« Der Sheriff griff nach einer goldenen Kette in seiner Hemdtasche. »Wir wissen nur, dass sie sich jetzt Mallory nennt. Das ist der Name, der nach einer ganzen Latte von Markowitzen in die Uhr hier eingraviert ist.«
Er hielt Louis’ Taschenuhr hoch, die Mallory geerbt hatte. Langsam drehte sie sich an der Kette. Das Edelmetall glänzte sanft in der Morgensonne. Charles hätte sie mit der vertrauten Gestalt eines einsamen Wanderers auf dem Deckel, der über offenes Gelände geht, unter Tausenden von Uhren erkannt. Die Wolken, die an dem goldenen Himmel dahinzogen, waren von dem Künstler so meisterlich und lebensecht nachempfunden, dass man förmlich sah, wie sich der Wanderer gegen den Wind stemmte.
Der Sheriff weckte ihn aus seinen Tagträumen. »Benutzt sie nun Mallory als Vor- oder als Nachnamen, Mr. Butler?«
»Entschuldigen Sie, aber hier liegt wohl ein Missverständnis vor. Ich bin nicht auf Bitten der Gefangenen hier.« Das war leider nur zu wahr. »Ich arbeite im Auftrag von Augusta Trebec, der Testamentsvollstreckerin des Shelley-Nachlasses.«
Der Sheriff musterte ihn ein wenig argwöhnisch. »Sind Sie Anwalt oder Privatdetektiv?« Es war mehr ein Vorwurf als eine Frage.
»Weder das eine noch das andere. Ich will nur Miss Trebec einen Gefallen tun.« Mallory, die vollendete Lügnerin, hätte ihm bestimmt geraten, jeder Lüge auch Wahrheit beizugeben, und deshalb fügte er hinzu: »Normalerweise arbeite ich für Regierungsstellen und Hochschulen. Ich bewerte Menschen, die ausgefallene Talente haben, und versuche, Anwendungsbereiche für ihre Begabungen zu finden.«
»Ausgefallene Talente? Da sind Sie bei uns an der richtigen Adresse.« Der Sheriff deutete auf das Fenster neben seinem Schreibtisch. Mutter und Sohn überquerten gerade den Marktplatz und steuerten das Café an.
»Der Junge, dieser Ira Wooley, ist ein idiot savant und Weltklassepianist. Er kann jede Melodie nachspielen, die er einmal gehört hat. Und Sie sollten ihn singen hören! Er hat das absolute Gehör und eine Stimme wie ein Engel. Na, was sagen Sie dazu, Mr. Butler?«
»Seine Mutter sprach davon, dass er Körperkontakte meidet, und ich habe gesehen, wie fasziniert er den Deckenventilator angestarrt hat.« Charles ging näher ans Fenster heran, um dem Jungen nachzusehen. »Seine Bewegungen sind offenbar gut koordiniert, und er scheint nicht zurückgeblieben,
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