Der steinerne Engel
Laurie lächelte gewinnend. Vielleicht spürte er, dass er mit diesem Gesichtsausdruck immer am weitesten kam. »Haben Sie schon mal eine Veranstaltung in einem richtigen Zelt erlebt?«
»Als ich klein war …« Charles unterbrach sich. Er hätte nicht sagen können, warum es ihm widerstrebte, diesem Mann von dem Sommer zu erzählen, in dem er mit Maximilians Zauberschau gereist war. »Vermutlich reisen die Prediger heute gar nicht mehr im Land herum, sie haben doch heutzutage alle ihre eigene Fernsehshow.«
»Nicht alle. Unsere Familie reist nach wie vor mit dem Zelt. Wir haben es einem bankrotten Zirkus abgekauft, als Babe ein kleiner Junge war.«
»Einem Zirkus? Es ist also ein richtiges Zirkuszelt?« So ein Prachtstück hatte er seit seiner Kinderzeit nicht mehr gesehen. »Wie groß ist es?«
»Ich garantiere Ihnen, dass Sie noch nie ein so großes gesehen haben. Morgen bauen wir es auf, um den Gedenkgottesdienst für Babe abzuhalten. Keine Träger, alles einzelne Stangen, und zum Aufbau nur Muskelkraft und Seile. Ein toller Anblick. Wenn Sie es miterleben wollen, müssen Sie morgen zeitig da sein. Gegen acht?«
»Einverstanden«, erwiderte Charles begeistert. Er hätte nie gedacht, dass er so etwas noch einmal zu sehen bekommen würde, und wollte sich diese Chance auf keinen Fall entgehen lassen. »Vielen Dank.«
»Gern geschehen.«
Malcolm vermittelte den – natürlich falschen – Eindruck, dass er nie zu blinzeln brauchte. Sein Blick war klar und eindringlich. Charles ertappte sich dabei, wie er den Mann anstarrte, was ihm sehr peinlich war. Laurie schien das zu spüren und lehnte sich zurück, sodass er Charles körperlich nicht mehr so nah war. Vielleicht hatten auch seine Augen etwas von ihrem Glanz verloren, denn jetzt wirkte ihr Blau ganz normal.
»Ich höre, dass Sie geschäftlich etwas mit der Gefangenen abzumachen haben?«, sagte Malcolm. »Für den Fall, dass sie eine Bekannte von Ihnen ist, sollen Sie wissen, dass ich ihr den Mord an meinem Bruder vergeben habe.«
»Nicht so voreilig, Mr. Laurie! Sie steht nicht unter Mordanklage, sondern wird als wichtige Zeugin festgehalten.«
Zu spät merkte Charles, dass er diesem Mann etwas Wichtiges verraten hatte. Lauries Überraschung war unübersehbar.
Charles senkte den Blick. Sicher war es kein großes Geheimnis, das ihm da entschlüpft war, sonst hätte der Sheriff nicht darüber gesprochen. Dennoch hatte er Augusta Trebecs Warnung in den Wind geschlagen, der Gegenseite keine nützlichen Informationen zu liefern, und dass dieser Mann Mallory nicht wohl wollte, stand fest. Um das Gespräch auf ein anderes Gleis zu lenken, sagte er: »Ich kenne mich in Ihrer Religion nicht aus. Steht die Neue Kirche den Baptisten nahe?«
»Nein, da bringen Sie uns Südstaatler durcheinander, Sir. Auf diesem Stück der Landkarte ist alles tief katholisch. Wir ziehen mit dem größten Kruzifix herum, das Sie je gesehen haben. Diese blutende, sich windende Kreatur am Kreuz als Zeichen dafür, dass er für unsere Sünden gestorben ist – das ist purer Katholizismus. Die Protestanten halten es mehr mit dem leeren Kreuz – als Erinnerung daran, dass ER wieder auferstanden ist.« Malcolm schüttelte halb belustigt, halb abfällig den Kopf. »Von der Passion wollen sie nichts wissen. Langweilige Gesellen, diese Protestanten. Ist nicht persönlich gemeint, falls Sie zu der Liga gehören.«
»Die Neue Kirche ist demnach eine katholische Sekte?«
»Wir sind von allem und für jeden etwas, würde ich sagen. Überzeugen Sie sich selbst. Morgen Abend ist es bestimmt gerammelt voll, aber wenn Sie wollen, halte ich Ihnen einen Logenplatz frei.«
»Danke, das wäre nett. Worauf konzentriert sich denn von der Ideologie her das, was Sie predigen?«
»Auf die Sensibilität. Wenn Sie lernen, die Dinge zu sehen, wie sie wirklich sind, können Sie am Fluss der Energie teilhaben. Wenn Sie den in der Lehre der Neuen Kirche verankerten Schritten zur Sensibilität folgen, begreifen Sie sehr bald, dass alles, was Ihnen geschieht, vorausbestimmt war. Jedes Ereignis, und sei es noch so unbedeutend, bringt Sie Ihrem Schicksal näher.«
Charles erkannte in Lauries Worten die verfälschten, umformulierten Prophezeiungen eines Hippie-Philosophen aus den frühen siebziger Jahren. Ein schlechter Autor, der trotzdem – oder gerade deshalb – auf die Bestsellerlisten gelangt war, hatte sie sich vor kurzem angeeignet und neu aufbereitet.
»Ich habe erlebt, dass die Armen zu Reichtum
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