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Der steinerne Engel

Titel: Der steinerne Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol O'Connell
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kaum eine Bewegung, obgleich er die sensible Schnauze auf die Erde legte. Argwöhnisch hob er den schweren Kopf. Jetzt war die Witterung ganz deutlich.
    Kein Tier.
    Der alte, nach Schmutz und Erde stinkende Wächter rappelte sich auf, verließ bedauernd sein schattiges Plätzchen und tappte durch den Garten zu dem schmalen Weg, der zur Straße führte. Er drehte den Kopf, um mit dem guten Auge sehen zu können. Seine Augen waren wund und trocken, und es dauerte eine Weile, bis er die Gestalt erkennen konnte. Das fremde Menschenwesen pfiff. Einmal hoch, zweimal kurz. Es pfiff seinen heimlichen Namen. Das da draußen auf der Straße war kein fremdes Menschenwesen, und was er sah, war kein Traum.
    Sie war nach Hause gekommen.
    Je mehr sie sich ihm näherte, desto schneller schlug sein Herz. Er machte ein paar Schritte zur Straße hin, mit geöffneter Schnauze – der Hundeversion eines Lächelns. Sein Herz raste, das Blut pumpte durch alte, verbrauchte Adern, er war hin- und hergerissen zwischen Fassungslosigkeit und Glück. Langsam setzte er eine Pfote vor die andere, aber er hatte das Gefühl, in großen Sätzen zu ihr zu stürmen.
    Endlich war er angelangt und jaulte leise und liebevoll. Er leckte ihr die Hand, und dann gaben seine Beine nach. Er stürzte und wälzte sich zu ihren Füßen auf der Erde.
    Sie kniete sich hin, streichelte ihn, nahm ihn in die Arme und drückte ihn an sich. Ihr Gesicht war nass. Behutsam tastete sie nach der Stelle, an der sein Herz unter den Rippen eingesperrt war, und gemeinsam verfolgten sie die langsamer werdenden Schläge. Sein Blick ließ ihr Gesicht nicht los, das von der Mittagssonne wie von einem Strahlenkranz umgeben war.
    Jetzt fröstelte er. Wie kalt es war.
    Und dann verdrehte er die Augen. Tiefe Schwärze umfing ihn.

11
    Charles Butler wandelte auf dem Wasser – oder vielleicht auch nur auf der Oberfläche des Grundwasserspiegels. Bei jedem Schritt über das feuchte Gras spritzte es nass aus seinen Schuhen. Der sumpfige Boden untermauerte Augustas These, dass ihr Haus auf einem Hügel stand, denn um Trebec House herum war das Gelände trocken gewesen.
    »Augusta!«, rief er, als er die Gestalt in dem verwaschenen Baumwollkleid erspähte. Sie blieb am Waldrand stehen und winkte ihm.
    Als er auf sie zuging, sank er immer tiefer in den Morast ein. Seine Schuhe waren vermutlich nicht mehr zu gebrauchen. Augusta selbst ging barfuß und hatte damit für sich das Problem gelöst.
    Sie feixte. »Wir werden uns mal ernsthaft über Ihre Garderobe unterhalten müssen, Charles.«
    Vermutlich wirkte er in dieser Gegend, wo alle Welt in Jeans herumlief, ziemlich lächerlich in seinem maßgeschneiderten Anzug und den handgefertigten Schuhen. Jeans hatte er nur in dem einen Sommer getragen, in dem er mit Vetter Max über Land gezogen war. Seine Eltern hatten ihn immer wie einen kleinen Erwachsenen gekleidet.
    »Ich wollte Ihnen die Schlüssel zu dem Shelley-Haus zurückbringen.« Jetzt sah er, dass sie einen Plastikbeutel in der Hand hielt, in dem Hühnerflügel steckten. »Sind Sie auf dem Weg zu einem Sumpfpicknick?«
    »Nein. Ziehen Sie die Schuhe aus und krempeln Sie die Hosenbeine hoch, dann zeige ich Ihnen etwas, das Sie nie vergessen werden.«
    »Einverstanden.« Unter seinen hochgekrempelten Hosenbeinen kamen blasse Beine zum Vorschein, die seit Jahren keinen Sonnenstrahl mehr gesehen hatten. Das Wasser umspülte jetzt seine nackten Zehen.
    »Bleiben Sie dicht hinter mir und weichen Sie keinen Schritt vom Weg ab«, ermahnte sie ihn. »Wenn Sie in den Bayou fallen, finden Sie keinen Halt, der Boden ist verdammt glitschig.«
    Sie waren jetzt in einem urwaldähnlichen Gebiet mit weit auseinander stehenden Zypressen und kleinen grasbewachsenen Inseln. Erst suchte er vergeblich nach dem Weg, von dem sie gesprochen hatte, dann sah er die von Moos und Algen überwucherten Steinblöcke, die sie als Trittsteine benutzte.
    »Das sind Teile des Fundaments von dem ursprünglichen Haus.«
    Augustas Füße klammerten sich geschickt wie ein zweites Paar Hände an die Steine. Charles stellte sich zuerst sehr ungeschickt an, aber nach einer Weile bekam er Übung. Die Arme weit ausgebreitet wie Balancierstangen, kämpfte er sich vorwärts, bis sie festeren Boden erreicht hatten – eine kleine Anhöhe, die sich über einem Meer von Wasserhyazinthen erhob. Hier war die wuchernde Vegetation kreisförmig zurückgeschnitten worden, so dass eine Art Teich entstanden war. Das Gewässer musste der

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