Der steinerne Engel
Hätte Kathy Schreie oder Rufe gehört, argumentiert er, hätte sie nach ihrer Mutter gerufen, dann hätte man das Kind gefunden und ebenfalls umgebracht.«
Henry nickte zustimmend.
»Warum hat der Sheriff nicht an die Möglichkeit gedacht, dass der Lärm der Menge vielleicht die Schreie eines Kindes übertönt hat? Er behauptet so felsenfest, der Mord sei völlig geräuschlos vonstatten gegangen, dass es sich fast anhört, als wüsste er es genau.«
»Er war nicht in der Stadt, als Cass ermordet wurde, aber wahrscheinlich kennt er mehr Einzelheiten des Falls als die Leute, die an dem Tag hier waren.«
»Aber dass es völlig geräuschlos abgegangen sein soll, ist bei einer gewalttätigen Rotte kaum vorstellbar.«
Henry deutete auf die von Steinen eingefassten runden Blumenbeete. »Die Blumen waren nicht zertrampelt. Die Leute sind sorgfältig um die Beete herumgegangen. An den Büschen und Bäumen war kein Zweig, kein Ast geknickt. Niemand ist gerannt. Nur die Steine und das Blut wiesen auf eine Gewalttat hin. Sie haben sich nicht blindwütig auf sie gestürzt, sondern planmäßig versammelt. Und als sie Cass und den Hund erledigt hatten, sind sie ruhig wieder gegangen. Das hat Tom den Spuren entnommen.«
Und vielleicht hatte Mallory das bestätigt. »Sie wissen, wo Mallory ist, nicht?«
Henry Roth sah auf seine schweigenden Hände und ging wieder nach vorn.
»Ich weiß, dass Mallory heute Vormittag geflüchtet ist. Wollen Sie nicht …«
»Es geht ihr gut. Aber sie macht sich Ihretwegen Sorgen. Ich schlage vor, dass Sie Ihr Zimmer bei Betty aufgeben und zu mir ziehen. Wir können Ihren Wagen in meinen Schuppen stellen.«
Charles folgte ihm auf die Straße. »Danke, aber ich möchte heute Abend den Gedenkgottesdienst für Babe Laurie besuchen. Malcolm hat mir einen Platz in der ersten Reihe versprochen.«
»Zu dem Gedenkgottesdienst werden viele Leute erwartet, da sind die Straßen verstopft, und man kommt zu Fuß am besten voran. Außerdem kann dann niemand Ihren Wagen bis zu mir verfolgen.«
Sie schlugen einen schmalen Pfad ein, der zu dem zwischen dem Haus von Cass Shelley und dem von Henry Roth gelegenen Friedhof führte.
»Augusta sagt, dass Owltown nachts gefährlich ist, und der Sheriff findet, dass man sich tagsüber dort nicht ohne fahrbaren Untersatz aufhalten sollte.«
»Heute Abend sind alle wirklich gefährlichen Leute bei der Trauerfeier.«
Sie waren schon fast am Friedhof, als Charles stehen blieb. Die Klänge einer Puccini-Arie wehten zu ihnen herüber, gesungen von einer wunderschönen, glasklaren Stimme. Als sie näher kamen, sahen sie Ira, der vor der Steinfigur stand, die Cass Shelley und ihrer Tochter so ähnlich sah.
Der junge Mann war tatsächlich, wie der Sheriff gesagt hatte, unglaublich begabt. Die steinernen Cherubim von den Nachbargräbern schienen im Flug innezuhalten, um Ira zu lauschen. Charles konnte die Einsamkeit dieses Jungen gut nachvollziehen. Er wusste aus eigener Erfahrung, wie man sich als hoch begabtes Kind unter Durchschnittskindern fühlte, und kannte von Berufs wegen die traurige Zukunft, die Ira erwartete. Dr. Shelleys Aufzeichnungen war zu entnehmen, dass Ira sich nie unbefangen unter den Menschen bewegen, dass er nie mit einem Mädchen würde flirten können, weil er Signale der Zärtlichkeit nicht verstand.
Dafür konnte er die kompliziertesten Musikstücke auf Anhieb vom Blatt spielen, konnte mit der Geduld eines buddhistischen Mönchs beobachten, wie sich eine Wolke bildete, und kannte jeden Stern beim Namen. Der Sheriff hatte gesagt, dass Ira mit den Engeln singen konnte. Dr. Shelley hatte in ihrer Patientenakte vermerkt, er sei ein Engel, »dessen Flügel von der großen Mehrheit der auf das greifbare Diesseits beschränkten Menschen nicht wahrgenommen werden«.
Die Arie war zu Ende, und Charles überkam eine fast unerträgliche Traurigkeit, weil es plötzlich so still geworden war, weil er die Musik, den Himmel verloren hatte.
Neben Henry Roth stehend, sah er zu, wie Ira vornüberkippte und im Gras zu Füßen der Steinfigur zu Boden sank. Er rollte sich zusammen wie ein müdes Kätzchen und zog die gebrochenen Hände schützend an den Körper. Sie warteten noch einen Augenblick und ließen ihn dann unter der Obhut des Engels schlafend zurück.
Der Hund erwachte und schlug die Augen auf. Es war heller Tag. Ein zerbissenes Ohr stellte sich lauschend auf. War es ein Tier, das er witterte? Das Wesen kam in aller Heimlichkeit auf ihn zu, er spürte
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