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Der steinerne Engel

Titel: Der steinerne Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol O'Connell
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schmale Nebenfluss sein, der an der Straße zu Cass Shelleys Haus entlangführte.
    »Das ist die Spitze des Finger Bayou.« Augusta sog die Lippen ein und erzeugte ein Geräusch wie ein Kind, das mit dem Finger über einen Luftballon fährt. Sie deutete auf einen Baumstamm, der auf sie zutrieb, obgleich auf der dunklen, glasigen Oberfläche des Bayou keine Strömung zu erkennen war. Augusta erzeugte noch einmal das seltsame Geräusch, und jetzt begriff er, dass sie den Baumstamm gerufen hatte. Einen Baumstamm mit großen Reptilienaugen. Knapp einen Meter von Charles Butlers Zehen entfernt lag das Tier im Wasser. Das ist kein Zoo, in dem wilde Tiere hinter Gittern verwahrt werden, dachte er. In diesem Urwaldgebiet war er in der Nahrungskette ein großes Stück nach unten gerutscht. »Ist es nicht ein unheimliches Gefühl, so einen Menschenfresser in der unmittelbaren Nachbarschaft zu haben?«
    »Alligatoren fressen lieber tote als lebendige Menschen«, erwiderte Augusta. »Aber der hier würde Sie nicht anrühren, auch wenn Sie schon drei Tage tot und so recht nach seinem Geschmack wären. Er hält Winterruhe und kommt nur alle zwei Tage hoch, ist aber sofort da, wenn ich mit dem Huhn erscheine. Meist frisst er nur ein paar Happen und manchmal gar nichts, aber im Lauf der Jahre hat er sich an mich gewöhnt, und wir enttäuschen einander nie.«
    »Wäre es denkbar, dass ein Alligator die Leiche von Cass Shelley gefressen hat?«
    »Nein, damals gab es hier keine Alligatoren, sie waren schon vor dem Tod von Cass ausgerottet. Ich habe die Zahl der Tiere, die im Sumpf herumkriechen und im Bayou schwimmen, genau im Kopf. Den Alligator hab ich als Jungtier hier ausgesetzt. Damit ihn die wildernden Laurie-Brüder nicht erwischen.«
    »Was ist aber dann aus ihrer Leiche geworden?«
    »Lassen Sie’s gut sein, Charles. Sie werden nicht alle Rätsel lösen.«
    »Das kann ich nicht. Ich brauche Lösungen.«
    Augusta trat auf eine kleine Plattform aus Steinen, eine Art Pier, und warf dem Alligator die Hühnerstücke zu. Das riesige Maul öffnete sich, gab den Blick auf Hunderte scharfer Zähne frei und klappte wieder zu. Das Wasser geriet in Bewegung. Ein Schwanz tauchte auf, und jetzt sah Charles, wie groß das Tier war. Der Schwanz schlug wie ein Hammer auf die Wasseroberfläche, dass es nur so schäumte. Das Wasser brodelte und kochte. Als es sich wieder ein wenig beruhigt hatte, war der Alligator verschwunden. Große Wogen schwappten an das Ufer des Bayou, und die Wasserhyazinthen vollführten in ihren Kielwellen einen wilden Tanz.
    Augusta hatte nicht zu viel versprochen: Es war in der Tat ein unvergesslicher Anblick.
    »Großartig, nicht wahr? Wenn dieser Trottel Ray Laurie oder sein Bruder Fred wüssten, dass der Alligator hier ist, wäre das Tier morgen tot. Ich verlasse mich darauf, dass Sie den Mund halten, Charles. Umgekehrt mach ich es genauso, das verspreche ich Ihnen.«
    »Ich hätte überhaupt keine Geheimnisse, wenn Sie Lilith nicht gesagt hätten, dass ich Mallory nicht kenne. Ich wollte Sie schon immer fragen, warum Sie das getan haben.«
    »Mallory … Ich kann mich an den Namen einfach nicht gewöhnen. Für mich ist sie immer noch die kleine Kathy Shelley.«
    »Vielleicht war es der Name ihres Vaters?«
    »Da bin ich überfragt. Cass hat nie von Kathys Vater gesprochen, ich weiß nicht mal, ob sie verheiratet war. Und fragen wollte ich nicht – man will ja nicht aufdringlich sein. Als Cass hierher kam und sich als Ärztin niederließ, war sie mit Kathy schwanger und benutzte ihren Mädchennamen.«
    Charles war froh, dass er sich an Augusta halten konnte. In dieser fremden Welt verlor er mehr und mehr die Orientierung. Alles geriet vor seinen Augen ins Gleiten und Schwimmen. Farnwedel streiften sein Gesicht. Er schlug sich auf den Nacken, wo ihn etwas gebissen hatte. Als er die Hand wegnahm, sah er, dass die Handfläche rot war. Blutsaugende Insekten im November – das war einfach abartig!
    Als das Haus in Sicht kam, ging er vor Augusta her zu der Stelle, an der er Schuhe und Socken abgelegt hatte. »Könnte der Vater etwas mit dem Tod von Cass Shelley zu tun haben? Eine Liebesbeziehung mit tödlichem Ausgang?«
    »Das glaube ich nicht.« Augusta musterte die nassen Socken und die ruinierten Schuhe, die er in der Hand hielt. »Der Mann, der Cass Shelleys Kind gezeugt hat, war fremd hier. Er hätte kaum mit dreißig Freunden hier anrücken können, ohne dass es aufgefallen wäre. Und wie hätte ein Fremder es

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