Der steinerne Engel
die Arme nahm, einen Wäschemarkierstift aus der Tasche ihres blutdurchtränkten Kleides zog und der Kleinen eine Telefonnummer auf den Handrücken schrieb. »Lauf!«, hatte Cass Shelley zu ihrer Tochter gesagt, die sich angsterfüllt an sie klammerte. »Lauf 1 .«, hatte die Mutter wiederholt und Kathy eine kräftige Ohrfeige verpasst – die erste ihres Lebens.
Mallory sah zum Himmel hinauf. Dort oben gingen kleine Lampen an, eine nach der anderen. Sie holte eine Zeltplane aus dem Gartenschuppen und wickelte den inzwischen kalten Kadaver darin ein. Eine Stunde später, als der Himmel dunkelblau und von Sternen übersät war, nahm sie den Hund und trug ihn in den Wald.
Charles trat, den Koffer in der Hand, auf die Veranda des Dayborn Bed and Breakfast. Die anderen Gäste waren nach dem abendlichen Fledermausrennen ins Haus gegangen. Nur Darlene Wooley lag noch in einem der Korbsessel am Geländer. Das harte weiße Licht verstärkte die Falten, die Sorge und Anspannung um ein außergewöhnliches Kind in ihr Gesicht gegraben hatten. Selbst Darlenes Haar, das ihr in einer Andeutung von Locken bis auf die Schultern fiel, wirkte erschöpft und ausgelaugt.
»Guten Abend«, sagte er leise. Sofort straffte sie sich und lächelte gequält.
Er stellte den Koffer neben ihrem Sessel ab. »Ich bin heute auf dem Friedhof Ira begegnet und habe versucht, mich mit ihm zu unterhalten. Kann sein, dass ich ihn erschreckt habe. Entschuldigen Sie bitte.«
»Keine Ursache.« Sie sah auf ihre gefalteten Hände hinab, und das Lächeln erstarb. »Im Gegenteil, es freut mich, dass Sie ihn angesprochen haben. Manche Leute hier trauen Ira überhaupt nicht mehr zu, dass er sprechen, geschweige denn denken kann.«
»Das weiß ich besser.« Betty hatte die Verandatür aufgestoßen und balancierte ein Tablett mit Kaffeegeschirr aus Porzellan auf einer Handfläche. »Als kleiner Junge hat Ira geredet wie ein Wasserfall.«
Die Verandabeleuchtung verlieh Bettys weißem Haar einen gelblichen Schimmer. Im Gegensatz zu Darlene wirkte sie jünger als ihre fünfundsechzig Jahre. Sie wehrte Charles’ Versuch, ihr zu helfen, mit ihrem runden Arm ab und stellte das Tablett auf einen kleinen Tisch zwischen einem leeren Korbsessel und ihrem Schaukelstuhl. »Ich hab für Sie eine Tasse mitgebracht, Mr. Butler.« Betty zwängte ihre üppige Figur in den Schaukelstuhl. »Setzen Sie sich doch noch einen Augenblick, wenn Sie’s nicht gar zu eilig haben.«
»Danke, gern.« Er nahm neben Darlene Platz und streckte die langen Beine zwischen den beiden Frauen aus. »Cass Shelley war Iras Ärztin?«
Darlene nickte. »Cass hat mit der Therapie begonnen, als er zwei war. Mit fünf konnte er lesen.«
Das sprach für die Ärztin – und auch für Ira, den sie offenbar geschickt motiviert hatte, sich der Welt zu öffnen. »Ein erstaunlicher Fortschritt!«
»Das fand ich auch. Aber seinem Vater ging das alles nicht schnell genug, und deshalb ist er an einem Abend mit ihm zu der Veranstaltung eines Gesundbeters gegangen. Haben Sie so was schon mal erlebt?«
»Ja, in einem großen Zelt.« Es war ein Höflichkeitsbesuch gewesen. Der Prediger hatte am Vortag die Zaubervorstellung von Vetter Max besucht. Charles hatte die Show als höchst eindrucksvoll in Erinnerung – Gospelmusik, Verwünschungen, eine Mischung aus Jahrmarktsrummel und Magie, Voodoo und christlicher Liturgie.
Er versuchte, sich die Ängste eines autistischen Kindes vorzustellen, das vor tausend kreischenden Zuschauern steht und von einem Scharlatan durch Handauflegen angeblich geheilt wird. Allein der erzwungene Körperkontakt konnte den Jungen aus dem Gleis geworfen haben. »Vermutlich hat das zu Rückschritten in Iras Therapie geführt.«
»Allerdings«, sagte Darlene mit unterdrücktem Zorn in der Stimme. »Hätte ich an dem Abend nicht Spätschicht gehabt, hätte ich es verhindern können. Hinterher war Ira wie ausgewechselt. Nach Cass Shelleys Tod wurde es noch schlimmer. Lange Zeit hat er überhaupt nicht mehr geredet. Mein Mann ist mit ihm zu einem Arzt in der Nachbargemeinde gegangen, der hat ihm Allergiespritzen gegeben.«
»Allergien sind für Autisten besonders belastend, das stimmt schon, sie …«
»Mag sein«, unterbrach ihn Betty, die inzwischen Kaffee eingeschenkt hatte. »Aber die Injektionen haben nicht geholfen. Ein bisschen besser mit ihm wurde es erst, nachdem sein Vater gestorben war und Darlene ihn in einer staatlichen Schule unterbringen konnte.« Sie gab Sahne und
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