Der steinerne Engel
persönlich sehr am Herzen, nicht?«, fragte Charles.
»Ganz genau, Mr. Butler. Verdammt persönlich. Und ich erzähl Ihnen noch etwas, was mir den Schlaf raubt. Cass hat Kathy in dem Schrank eingeschlossen und ihr vermutlich eingeschärft, sich still zu verhalten. Vielleicht hat sie gesagt, es sei ein neues Spiel. Wahrscheinlich hat sie die Leute vom Schlafzimmerfenster aus kommen sehen und gerade noch Zeit gehabt, Kathy zu retten. Die Leute dachten wohl, Cass sei allein im Haus, denn die Kinder waren ja alle mit dem Boot unterwegs. Glauben Sie, Kathy hätte den Mund gehalten, wenn sie ihre Mutter hätte schreien hören? Die nicht, darauf können Sie sich verlassen. Und deshalb möchte ich wetten, dass sie nichts gehört hat.«
»Und der Lärm der Meute?«
»Es ging, wie gesagt, sehr ruhig zu. Kein Gebrüll, keine wüsten Drohungen, nichts. Allenfalls ein Wortwechsel. Möglich, dass sie den gehört hat. Und denkbar ist, dass Kathy und ihre Mutter noch ein paar Worte miteinander gesprochen haben, aber Schreie hat Kathy sicher nicht gehört. Ich stelle mir vor, dass Cass keinen Laut von sich gegeben hat, als die Schweine sie mit Steinen bewarfen. Ihre Mörder sollten nicht merken, dass das Kind im Haus war. Tagtäglich sehe ich die Szene vor mir. Ich sehe eine Frau, die von einer mörderischen Bande angegriffen wird, die Angst hat, die Schmerzen hat – und die keinen Laut von sich gibt. Ich weiß nicht, wie’s Ihnen gegangen wäre – aber ich hätte das nicht fertig gebracht.«
Sie standen jetzt wieder auf dem Gang, und der Sheriff deutete auf die Hintertreppe. »Einer ist noch mal zurückgekommen, um die Leiche zu holen, und hat sie offenbar auf diesem Weg aus dem Haus geschafft. Als ich herkam, war die Treppe gewischt, und der Teppich zwischen Kathys Zimmer und der Hintertreppe war feucht – und sauber. Komisch, oder? Das eine Treppenhaus voll Blut, das andere sauber geputzt.«
Schweigend gingen sie die Vordertreppe wieder hinunter und verließen das Haus. Der Sheriff hatte die Tür zu seinem Wagen schon geöffnet, als der Hund wieder auftauchte.
»Das, was der Mutter passiert ist, habe ich nicht verhindern können, aber ihre Tochter wird niemand umbringen, das schwöre ich. Ich hole sie zurück, und sie wird in einer Zelle sitzen, bis sie mit mir redet. Das mit dem Ausbruch wird sich schnell genug herumsprechen. Nicht nötig, dass Sie da nachhelfen, Mr. Butler.«
Knurrend und mit gefletschten Zähnen schlich der Hund sich an. Er wirkte größer und jünger, als er mit kampflustig funkelnden Augen auf den Sheriff zukam.
Jessop bewegte sich nicht und ließ keine Angst erkennen. Geduldig wartete er, bis das Knurren sich legte.
Drei Meter vor dem Sheriff blieb der Hund stehen, hob die Schnauze und schnupperte. Dann stolperte er und wäre um ein Haar hingefallen. Mit einem Schlag wirkte er wieder alt und grau. Einen Hinterlauf kläglich nachziehend, machte er sich davon.
Charles sah dem Wagen des Sheriffs nach, der braune Staubwolken aufwirbelte.
Eine dunkle Gestalt, die im Schatten neben dem Haus gestanden hatte, trat jetzt ans Licht. Henry Roth lächelte strahlend. Das Misstrauen von gestern, das sich vermutlich noch durch die Aufforderung Mallorys verstärkt hatte, er solle Charles fortschicken, war offenbar verflogen.
Offenbar hatte die Situation sich geändert.
Charles ging auf ihn zu und gab ihm die Hand. Hinter Henry hatte sich der schwarze Labrador vor einer Wasserschüssel und einem halb geleerten Futternapf hingelegt und schlief. Seine Beine zuckten, als träume er von aufregenden Verfolgungsjagden.
Die Hände des Bildhauers bewegten sich. Er deutete auf den schlafenden Hund. »Er war halb tot, als Augusta ihn fand. Das war an dem Morgen nach Cass Shelleys Tod.«
»Den Hund haben sie also auch gesteinigt?«
Henry nickte.»Augusta hat getan, was sie konnte, aber er war so schwer verletzt, dass sie einen Tierarzt holen musste. Der hat ihr angeboten, ihn einzuschläfern, aber das hat der Sheriff verhindert. Er hat viel Geld ausgegeben, um dem Hund das Leben zu retten. Es hat Monate gedauert, bis der Labrador wieder laufen konnte.«
»Ich habe den Eindruck, dass der Hund den Sheriff nicht mag.«
»Er mag das Auto nicht. Meist parkt Tom weiter weg.«
Der Hund wälzte sich auf der Erde und stöhnte. Was hielt ihn noch am Leben?
»Warum wollte der Sheriff den Hund nicht sterben lassen?«
Henry zuckte die Schultern. »Das hatte wohl mehrere Gründe. Es war Kathys Hund, und Tom hat Kathy
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