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Der steinerne Engel

Titel: Der steinerne Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol O'Connell
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vorbeigekommen und hat Ira gesagt, dass sein Stern wiederkommt. ›Heut Abend‹, sagte Tom. ›Versprochen!‹«
    Betty schlug mit der flachen Hand auf die Armlehne ihres Schaukelstuhls. »Milton hielt sich den Bauch vor Lachen, aber Tom hat ihn angesehen, als wenn er gute Lust hätte, ihn über den Haufen zu schießen, und da ist ihm das Lachen vergangen.«
    Betty hörte auf zu schaukeln. »Ira blieb stundenlang auf der Treppe dort sitzen und starrte auf den leeren Fleck am Himmel. Und neben ihm saß Kathy, Cass Shelleys kleine Tochter, die war damals erst sechs. Die beiden Kinder hatten Vertrauen zu Tom Jessop. Sie saßen da und warteten.«
    Charles betrachtete die Verandastufen. Sein Lebtag lang würde er das Bild der beiden Kinder nicht mehr vergessen, die gläubig auf die Rückkehr ihres Sterns warteten.
    »Und was soll ich Ihnen sagen?«, fuhr Betty fort. »An dem Abend ist der Stern tatsächlich wiedergekommen, genau wie Tom Jessop vorhergesagt hat. Und genau an dem Fleck, an dem er nach Iras Meinung stehen musste. Und dann haben die drei noch endlos dagehockt und ihren Stern bewundert.«
    Charles musste lächeln, weil ihm der Gedanke gekommen war, dass Malcolm Laurie den Sheriff wahrscheinlich für einen Trottel hielt, weil er für dieses Wunder nichts verlangt hatte. Charles begriff, was Tom Jessop getan hatte und wie und warum er es getan hatte. Es bereitete ihm nur Mühe, den Sheriff, der Kinder liebte, mit jenem Mann in Verbindung zu bringen, der Deputy Travis und Alma Furgueson mit einem wahnsinnigen Hund gequält hatte.
    »Es war also ein wandelbarer Stern, ein Doppelstern, der sich verfinstert hatte«, murmelte Charles halb zu sich selbst.
    Betty sah ihn überrascht an und lächelte. »Ja, genau«, bestätigte sie.
    Auch Darlene lächelte jetzt. »Tom hatte die Sternwarte angerufen, weil er vermutete, dass Ira vielleicht einen Satelliten oder einen Kometen gesehen hatte, aber dort haben sie ihm gesagt, dass ein dunkler Stern über einen hellen hinweggezogen war und ihn verdunkelt hatte.«
    Charles nickte. Die Eklipse selbst hatte vermutlich nur Stunden gedauert, aber aufgrund der Wetterverhältnisse war es denkbar, dass man den Stern mehrere Tage nicht hatte sehen können. Mit diesem Wissen im Hinterkopf also hatte der Sheriff für Ira und Kathy eine magische Schau abgezogen.
    »Er hieß Algos«, sagte Darlene.
    »Aber für uns ist er nur Iras Stern. Und ehe das Jahr um war, hatte dieser blöde Milton Hamilton das Zeitliche gesegnet«, fügte Betty hinzu, und es klang, als sei das die passende Strafe für einen Mann, der es an Respekt vor Kindern fehlen ließ.

12
    Die lange Reihe von Autos, die sich vom Highway bis zum Festplatz erstreckte, beleuchtete mit gleißendem Scheinwerferlicht Charles Butlers Weg. Von Henry Roths Haus hatte er einen strammen Fußmarsch hinter sich, war dabei aber schneller vorangekommen als die Fahrzeuge. Er sah nach oben. Das Neonschild WUNDER ZU VERKAUFEN tauchte die Zeltleinwand in grelles Rot.
    Er kam an dem Parkplatz vorbei, der bereits überfüllt war, und schloss sich der Menge an, die dem Zelt zustrebte. Eine Frau kreischte und zeigte zur Firststange hinauf.
    Dort kreiste wie eine verirrte Sternschnuppe ein leuchtender Feuerball. Charles kannte den Trick; den hatte auch Vetter Max angewendet. Wenn er die Augen zusammenkniff, konnte er den Führungsdraht erkennen, an dem sich der Feuerball bewegte.
    Er erinnerte sich an einen Besuch, den er zusammen mit Vetter Max einem Wanderprediger in dessen Zelt abgestattet hatte. In einer warmen Nacht auf freiem Feld hatte Max dem alternden Pfarrer zum Dank für erwiesene Gastfreundschaft alle Einzelheiten dieses Zauberkunststücks verraten.
    Charles lächelte melancholisch.
    Das Kunststück hatte also, von Schausteller zu Schausteller weitergegeben, bis heute überlebt. Er fragte sich, ob auch im Zelt selbst das eine oder andere ihn an Max erinnern würde.
    Am Eingang drückte ihm ein junger Mann, der nicht größer als eins fünfzig sein mochte, ein Flugblatt in die Hand, das Charles dankend entgegennahm. Es war eine Liste von Seminaren der Neuen Kirche zum Thema FINANZIELLE WUN-DER, gedruckt auf Papier in Geldscheinfarben.
    Er faltete das Blatt, steckte es in die Jackentasche und sah sich den Kleinen genauer an. Dass er zum Laurie-Clan gehörte, war unverkennbar, aber das war hier in Owltown nichts Ungewöhnliches. Was Charles auffiel, waren seine viel zu großen Schuhe, das sackartige Hemd, die Hosen mit den hochgekrempelten

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