Der steinerne Engel
Beinen. Der Junge sah aus, als hätte er sich aus der Wühlkiste der New Yorker Obdachlosen bedient.
Charles streckte ihm seine Eintrittskarte hin, was den kleinen Mann zu irritieren schien, denn ihm war nicht aufgetragen worden, Zettel entgegenzunehmen, sondern Zettel zu verteilen. Er löste das Dilemma dadurch, dass er weiter ungerührt seine grünen Werbezettel verteilte und Charles mit der Eintrittskarte in der Hand ignorierte.
»Entschuldigen Sie …«
»Ja?« Der junge Mann ließ die Schultern hängen. Sein Problem machte keine Anstalten zu verschwinden. Charles drückte ihm energisch die Eintrittskarte in die Hand. »Malcolm hat mir gesagt, ich soll sie am Eingang abgeben.«
»Davon weiß ich nichts, Sir. Onkel Ray?«
Wieder erschien ein Mann mit Laurie-Gesicht. Dieser hier hatte grau meliertes Haar und ein faltiges Gesicht und mochte Ende fünfzig sein. »Was gibt’s denn, Jimmy?«
Jimmy reichte ihm die Eintrittskarte, und der ältere Mann wandte sich Charles zu. »Sie müssen Mr. Butler sein«, sagte er und strahlte ihn an. Gleich darauf fauchte er Jimmy an: »Du hättest Mr. Butler ins Zelt und an seinen Platz führen sollen.«
Er nahm Charles am Arm. »Sie dürfen das Jimmy nicht übel nehmen. Allzu komplizierte Aufgaben kann man ihm nicht übertragen, er hat so seine Schwierigkeiten mit der Konzentration.«
Charles nahm diese Aussage ein wenig erstaunt zur Kenntnis, denn die Gesichtszüge des jungen Mannes verrieten bedeutend mehr Intelligenz als die seines Onkels.
Ray Laurie stellte sich als Babes Bruder vor.
»Mein Beileid«, sagte Charles. Ray sah ihn einen Augenblick völlig verständnislos an, dann nickte er lächelnd. »Wenn Sie mir bitte folgen würden …«
Er geleitete Charles zu einem Platz in der ersten Reihe, der mit einem roten samtbespannten Seil abgesperrt und mit einem Reserviert-Schild versehen war. Hoffentlich, meinte Ray, mache es Charles nichts aus, die Bühne ein bisschen von der Seite zu sehen.
»Überhaupt nicht.« Charles musste fast schreien, um sich über den Lärm der Menge hinweg verständlich zu machen. Etwa tausend Zuschauer saßen bereits auf ihren Plätzen, etwa doppelt so viele warteten noch auf Einlass. »Malcolm tritt also die Nachfolge seines Bruders an?«
»Mal war schon immer der eigentliche Prediger, Mr. Butler. Babe war wegen seiner hellseherischen Fähigkeiten und seiner Krankenheilungen eine riesige Attraktion, das muss man ihm lassen, aber der Wortgewaltigere ist Malcolm.«
Charles warf einen Blick auf die Bühne, wo gerade rote Stoffbahnen von einem großen Plakat im Hintergrund gezogen wurden.
»Ganz neu.« Ray Laurie deutete auf ein Foto des verewigten Babe Laurie, das größer war als die Werbeplakate am Highway. »Unheimlich teuer, das Ding, besonders weil es so eilig war. Aber Mal wollte einen würdigen Gedenkgottesdienst. Babe hätte das bestimmt gefallen.«
Charles hatte schon entdeckt, dass das Riesenfoto hier sonst nicht seinen Platz hatte, denn von der Seite sah er darunter die frühere Kulisse – die blutige Hand eines ans Kreuz geschlagenen Christus.
Neue Ikonen anstelle der alten.
Die noch freien Plätze füllten sich rasch. In Massen strömten die Zuschauer zu den in langen Reihen aufgestellten Klappstühlen.
Durch die Menge der Gläubigen bewegten sich Verkäufer in orangefarbenen Westen und priesen lautstark ihre Souvenirs und Amulette an. Für fünfzig Dollar war eine Locke von Babe Lauries Haar zu haben. Nur fünf Dollar kostete ein Vogelfuß an einem Schlüsselring, der einen vor Anfeindungen schützen sollte. Zum gleichen Preis verhießen Säckchen aus Vogelfedern Heilung für sämtliche Leiden – von der Arthritis bis zum Krebs. Ein paar Dollar mehr musste man für pyramidenförmige Quarzstücke ausgeben, die Babe Laurie persönlich gesegnet hatte und die Wunder aller Art beschleunigen sollten. Ein Bier kostete vier Dollar, ein Hotdog drei. Und hier, Brüder und Schwestern, unser Extra-Sonderangebot – ein Stück vom Himmel selbst, eine rosa Wolke Zuckerwatte für zwei – in Worten ZWEI – Dollar.
Diskret ermuntert von den Verkäufern, begann die Menge zu intonieren: »Babe, Babe, Babe!«
Ein in lila Roben gewandeter Gospelchor – Schwarze und Weiße gemischt – versammelte sich vor dem Riesenbild, und die Zuschauer schmetterten den Refrain zu dem a cappella gesungenen Lied:
»Babe, Babe!«
»Oh, when the sa-a-a-a-aints …«
»Babe, Babe!«
»… Oh, when the saints come ma-a a-a-rching in …«
»Babe,
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