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Der steinerne Engel

Titel: Der steinerne Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol O'Connell
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Babe, Babe!«
    Unter Dixielandklängen betrat jetzt die Band die Bühne, und Trompeten, Klarinette und Posaune begleiteten schmetternd den bekannten Song. Die Zuschauer begannen rhythmisch zu klatschen. Das Messing funkelte, die Hörner bliesen in den höchsten Tönen.
    Die Begleitmusik verstummte, ehe der Chor sein Lied zu Ende gebracht hatte. Die Lichter wurden gedimmt, und die Spannung stieg. Ein Spotlight warf einen kleinen Lichtkreis auf die Plakatwand. Die Menge kreischte und klatschte. Der Lichtkreis wurde größer und intensiver, bis er einer hellen Sonne glich.
    So hell war sein Glanz, dass Charles einen Moment den Blick abwenden musste. Als er wieder hinsah, hatte sich unter den Ohs und Ahs der Menge ein kleines Wunder vollzogen: Weißer Dampf waberte über die Bühne. Die Lauries, überlegte Charles nüchtern, hatten offenbar ihre Trockeneismaschine angeworfen.
    Jetzt trat Malcolm Laurie in den Lichtkreis. Sein Paillettenkostüm funkelte. Der weiße Nebel verdeckte seine Beine bis zu den Knien, und als er sich geschmeidig wie ein Tänzer vorwärts bewegte, konnte man den Eindruck gewinnen, dass seine Füße den Boden nicht berührten. Das Spotlight wurde abgedunkelt, Malcolm aber glitzerte, was das Zeug hielt, und zeigte seine blendend weißen Zähne. Mit einer Handbewegung bat er um Ruhe. Das Kreischen endete in einem kollektiven Seufzer.
    Dann begann die Litanei, verstärkt durch schnurlose Mikrofone und untermalt vom leisen Summen des Chors. »Brüder und Schwestern, seid ihr es leid, arm zu sein? Sagt Amen.«
    »Amen!«, kreischte die Menge.
    »Seid ihr euer Elend leid? Sagt Amen.«
    »Amen!«
    »Ich weiß, was ihr euch fragt, Brüder und Schwestern. Warum, fragt ihr, warum nur ist Babe Laurie gestorben und hat uns verlassen?«
    Das Licht wurde wieder heller. Als es unvermittelt erlosch, war Malcolm Laurie verschwunden.
    Jetzt tauchte der Lichtkreis samt Malcolm weiter vorn an der Bühne wieder auf. »Babe ist nicht fort. Er ist hier. Mein Bruder ist bei mir. Er ist heute Abend bei uns allen.«
    Er streckte die Hände aus. Seine Finger zitterten, seine Stimme war zärtlich wie die eines Liebenden. »Spürt ihr es? Spürt ihr seine Liebe? Öffnet eure Herzen weit und hört mir zu. Ich schlafe, aber mein Herz wacht. Es ist die Stimme meines Liebsten, die da klopft und sagt: Öffne mir, mein Lieb.« Er stolzierte auf der Bühne hin und her. Wenn er in die Menge der Zuschauer sah, schien es, als stelle er mit jedem Einzelnen Blickkontakt her.
    »Mein Liebster hat seine Hand an die Tür gelegt.« Malcolm legte die Hand aufs Herz, während er sich auf ein Knie fallen ließ. »Und ich erhob mich und öffnete meinem Liebsten.« Langsam stand er auf. »Duftende Myrrhe troff von meinen Händen und Fingern auf das Schloss der Tür.« Seine Stimme wurde noch leiser. »Ich öffnete meinem Liebsten.« Er breitete die Arme aus. »Lass ihn mich küssen mit den Küssen meines Mundes: denn seine Liebe ist süßer als Wein. Ein Büschel Myrrhe ist mein Liebster für mich, die ganze Nacht soll er zwischen meinen Brüsten liegen.«
    Charles erkannte die Verse aus dem Hohelied Salomos, die Malcolm wohl wegen ihrer erotischen Wirkung gewählt hatte. Sie waren mehr oder weniger wörtlich zitiert, aber in beliebiger Reihenfolge aneinander gereiht. Der Mann scheute offenbar vor keinem geistigen Diebstahl zurück. Charles beobachtete eine ältere Frau, die in der Reihe hinter ihm saß und den Prediger anstarrte, als sei er ihr Liebhaber. Und im Grunde war er das ja auch.
    Malcolm glänzte vor Schweiß und sprühte vor Licht. Die schmeichelnde Stimme lullte die Zuschauer ein, streichelte sie, berührte sie an den empfindlichsten Stellen und entlockte ihnen ein donnerndes »Amen!« Er war ein Rockstar, wie er im Buche stand – primitive Sinnlichkeit im Dienste des Herrn.
    »Geliebte Brüder und Schwestern!«, rief Malcolm. »Ich spüre Babe in mir, wie er meinen Körper mit Liebe überflutet, mit der Kraft des allmächtigen Gottes erfüllt. Ich habe die Macht.« Eine Faust reckte sich gen Himmel.
    »Amen!«, kreischte die Menge inbrünstig.
    Charles blickte auf das riesige Porträt und hörte, wie die Zuschauer, die Fäuste ihrem Prediger gleich in die Luft stoßend, immer wieder den Namen Babe schrien.
    Das also war die Neue Kirche – eine Mischung aus Bibel und Hitler.
    Entzückend!
    Jemand reichte Malcolm ein gewöhnliches Wasserglas und einen Kristallpokal. Er goss klares Wasser in den Pokal, der sich mit einer satten roten

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