Der steinerne Engel
Flüssigkeit füllte. Tausend Zuschauer schnappten hörbar nach Luft.
Malcolm hatte es gewagt, Wasser in Wein zu verwandeln.
Charles kannte das Kunststück, erlebte es aber zum ersten Mal in einem religiösen Zusammenhang. Der Trick bestand darin, die Kristalle, die das Wasser rot färbten, wenn sie sich auflösten, mit der Hand abzudecken, solange man das Glas hielt.
Malcolm tat einen tiefen Zug, dann drehte er der Menge den Rücken und sah zu dem Abbild seines Bruders hinauf. Das Glas zerschellte auf dem Bühnenboden. Er breitete die Arme aus wie ein Gekreuzigter, sein Körper zuckte. Es herrschte vollkommene Stille. Als Malcolm sich umdrehte, war er völlig verändert. Mund und Augen schienen größer, die Lippen waren vorgeschoben, das verschwitzte Haar klebte ihm am Kopf. Sein Gesicht wirkte jetzt fast grausam.
Leicht hinkend ging er hin und her und blieb schließlich in der Bühnenmitte stehen. Er blähte die Brust, Stolz und Überheblichkeit sprachen aus jeder seiner Gesten. Dann taumelte er mit weit aufgerissenen Augen nach hinten und wieder nach vorn bis zum Bühnenrand und streckte in einer flehenden Gebärde die Hände vor. Seine Pailletten funkelten, während er sich in Krämpfen wand.
»Das ist ja Babe!«, rief ein Mann aus der ersten Reihe. Man hörte, wie die Menschen im Zelt tief Atem holten und dann leise seufzten. Aller Augen waren jetzt auf die Bühne gerichtet. Es war erneut ganz still geworden. Die Menge schien von der Auferstehung ihres Idols und dem Licht wie hypnotisiert.
Und dann kam unvermittelt eine neue Nummer, übernommen aus dem Programm des legendären P. T. Barnum. Die professionellen Kandidaten für Wunderheilungen wurden auf die Bühne gebracht – eine Frau, deren Arme unkontrollierbar zuckten, ein Mann, der auf den Händen ging und die Beine nach schleifte. Fehlt nur noch, dachte Charles, der Junge mit dem Hundegesicht und die Dame mit dem Bart. Die Band begleitete den Auftritt der hinkenden, kriechenden, zitternden Menschen mit schmetternden Klängen, der reinkarnierte Babe Laurie legte ihnen die Hand auf, und die eben noch so kläglichen Figuren gingen gesund und munter wieder ab.
Jetzt strömten die Zuschauer mit weniger dramatischen, dafür aber echten Leiden herbei, erbaten Heilung von Malcolm und wurden nacheinander auf die Bühne geführt. Malcolm legte einem Mann, der sich auf zwei Stöcke stützte, die Hand auf die Stirn. Der Mann fiel rücklings in die Arme der Ordner. Malcolm zerbrach die Stöcke mit einer theatralischen Geste, dann hinkte der Mann ungeheilt zurück zu seinem Platz, wobei er einmal stürzte. Doch das fiel niemandem auf. Aller Augen waren auf die Bühne gerichtet.
Ihm folgte eine ganze Gruppe arthritisch gekrümmter älterer Menschen, die sichtlich erschüttert waren, als Malcolm ihnen die Hände auf den Kopf legte und behauptete, er heile sie im Namen von Babe Laurie. Eine Frau, der er eine Hand aufs Gesäß und die andere an die Stirn legte, stürzte wie vom Blitz getroffen nach hinten und wurde von den Ordnern aufgefangen. Schwankend und benommen, aber mit verzücktem Gesicht und Tränen in den Augen ging sie die Stufen hinunter.
Nach diesem Vorspiel war als nächster Programmpunkt das kollektive Wunder vorgesehen, das jeden Zuschauerwunsch zu erfüllen versprach. Zuerst aber kamen die Kollektenteller.
»Glaubt ihr, liebe Brüder und Schwestern?« Malcolm war nicht mehr die Verkörperung seines Bruders, sondern der begnadete Prediger, der selbstbewusst auf der Bühne auf und ab ging. »Sagt Amen.«
»Amen.«
»Dann gebt alles, was ihr habt. Jeden Dollar in eurer Brieftasche, jedes Zehncentstück in eurer Jacke. Gebt alles, was ihr habt, und ihr werdet dafür mehr bekommen als die Summe all eurer Gaben. Wünscht ihr euch ein Wunder? Sagt Amen.«
»Amen.«
In den Tellern häufte sich das Bargeld. Die Zuschauer in der ersten Reihe leerten tatsächlich ihre Brieftaschen, dabei intonierten sie den Namen Babe und starrten sein Bild auf der Bühne an. Sie beteten zu ihm. Er war ein Gott und Malcolm sein Priester auf Erden.
»Es wird Zeit, euren Glauben kundzutun. Wollt ihr ein Wunder kaufen?«
»Amen.«
»Dann greift in die Brieftaschen, verschwendet keinen Gedanken an das Morgen.«
Charles erinnerte sich, dass Jesus Christus etwas in dem Sinne zu Judas gesagt hatte, aber nur, weil er ihn daran hatte hindern wollen, bei einer ähnlichen Veranstaltung mit dem Hut herumzugehen.
»Trennt euch von eurem Geld, und es wird hundertfach zu euch
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