Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der steinerne Engel

Titel: Der steinerne Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol O'Connell
Vom Netzwerk:
Zucker in eine Tasse, die sie Darlene reichte. »Ich erinnere mich noch an die Zeiten, als Ira die reinste Quasselstrippe war. Er hat angefangen zu sprechen, als er … wie alt war er, Darlene?«
    »Eineinhalb Jahre. Aber er hat mehr zu uns als mit uns gesprochen«, antwortete Darlene fast entschuldigend.
    »Er hatte aber auch viel zu erzählen«, nahm Betty ihn in Schutz. »Vor allem von seinen Listen und seinen Sternen. Sie nehmen Ihren Kaffee schwarz, Mr. Butler, stimmt’s? Und drei Stück Zucker? Ira war ständig am Zählen und Auswendiglernen.«
    Darlenes Müdigkeit war verflogen. »Einmal hat er sich alle Sterne eingeprägt, die er von seinem Schlafzimmerfenster aus sehen konnte. Er hat eine Sternenkarte gezeichnet, auf der man sogar den Fensterrahmen und die Vorhänge sah.«
    »Und was Ira alles über Sterne wusste!«, ergänzte Betty. »Ich weiß heute noch, was er uns über die alten, erkalteten Sterne erzählt hat. Dass ein kleines Stück, das in Ihre Handfläche passen würde, bis zu einer Tonne wiegen kann.« Sie beugte sich zu Darlene hinüber. »Weißt du noch, wie Ira eines Tages einen Stern nicht mehr finden konnte und der Sheriff eine Vermisstenanzeige aufgegeben hat?«
    »Und ob ich das noch weiß.« Darlenes Blick wanderte zum Büro des Sheriffs auf der anderen Seite des Marktplatzes, wo noch zu so später Stunde in einem Fenster Licht brannte. »Eigentlich müsste ich jetzt rübergehen und mich bei Tom entschuldigen, weil ich ihm so ein Theater gemacht habe. Wenn ich denke, wie er sich für Ira eingesetzt hat …«
    »Hast du was dagegen, wenn ich es erzähle, Darlene?« Betty schaukelte gemächlich vor und zurück. »Damals war er fünf, oder?«
    Darlene nickte, und Betty fuhr fort: »Wir saßen hier draußen, wie immer nach dem Abendessen. Auch der alte Milton Hamilton war dabei, der wohnte damals als Dauermieter bei mir, inzwischen ist er tot, aber ich weine ihm keine Träne nach. Milton war einer von denen, die von früh bis abends auf ihrer Bildung herumreiten, wahrscheinlich kennen Sie den Typ, Mr. Butler …«
    Charles nickte.
    »Ira saß mit seiner Sternenkarte hier auf der Vortreppe«, sagte Betty. »Plötzlich guckt er seine Mutter an und meint, dass ein Stern weg ist. Einfach futsch. Das Kind war so was von außer sich – man hätte denken können, sein kleiner Hund wär ihm weggelaufen. Und was macht dieser Milton Hamilton? Hält ihm einen Vortrag und doziert, dass Sterne nicht einfach verschwinden, sie explodieren, und so was hätte Ira doch sehen müssen.«
    »Milton war Bibliothekar gewesen«, ergänzte Darlene. »Und da hat er wohl gedacht, dass er, nur weil er sein halbes Leben mit so vielen Büchern verbracht hat, das Wissen für sich gepachtet hat.«
    »Später hat sich rausgestellt, dass er keinen blassen Schimmer von Astronomie hatte«, sagte Betty, noch im Nachhinein empört. »Ich hab gedacht, dass Ira sich vielleicht verzählt hat, aber Darlene hatte noch nie erlebt, dass der Junge sich bei irgendwas verzählt hätte, und hielt zu ihm – und ich auch. Milton war stinksauer. Ira sei ein ganz dummer Junge, sagte er, es sei völlig ausgeschlossen, dass er das Erlöschen eines Sterns mit angesehen hatte. Ira war ganz geknickt.«
    Betty hatte sich in Rage geredet. Jetzt fasste sie Charles am Arm, um ihm zu bedeuten, dass das Beste erst noch kam. »Am nächsten Abend steht Tom Jessop auf meiner Veranda, ein Klemmbrett und eine Hand voll amtlicher Formulare in der Hand, und nimmt Iras Vermisstenmeldung auf. Ohne eine Miene zu verziehen. Er hat Ira sogar noch gefragt, ob er sich seine Sternenkarte leihen könnte.«
    Betty sah Darlene lächelnd an. »Tom war damals ein gut aussehender Mann, nicht wahr? Aber ich schweife ab.« Sie schaukelte ein bisschen schneller. »Milton kam in dem Moment aus dem Haus, als Ira dem Sheriff die Stelle zeigte, wo er seinen Stern zuletzt gesehen hatte, und Tom schrieb alles genau auf, Wort für Wort. Milton hat die beiden ausgelacht, und der arme Ira war wieder ganz unglücklich. Und dann sagte der Sheriff: ›Du hast Recht, Ira. Dass da ein Stern fehlt, sieht doch jeder Trottel.‹ Wohlgemerkt – gesagt hat er das zu dem Jungen, aber angeguckt hat er dabei Milton Hamilton, und wenn Blicke töten könnten, wär er in diesem Augenblick eine Leiche gewesen. An dem Abend hat Milton kein Wort mehr gesprochen.«
    Das Schaukeln wurde noch schneller. »Am nächsten Abend ist der Sheriff gleich nach dem Abendessen, als es noch hell war, wieder bei uns

Weitere Kostenlose Bücher