Der steinerne Engel
davon … Auch das war ein Lieblingsspruch von Mallory. Er hatte viele Mallory-Sprüche gelernt in den Jahren, in denen er sich gequält hatte, weil er sie liebte und Mallory zur Liebe nicht fähig war.
»Charles? Wo …?«
»Ich werde feststellen, wer Babe Laurie umgebracht hat.«
»Charles«, klang es schwach von oben zu ihm herunter.
Er kam wohlbehalten unten an und ging die unbeleuchtete Straße entlang, ohne sich umzusehen. Im Haus des Künstlers war alles dunkel. Auf dem Telefonmast tippte Mallory einen Befehl in ihren Computer ein, und bei Henry Roth gingen die Lichter an, um Charles heimzuleuchten.
Nach einem kurzen, lautlosen Einbruch kehrte Mallory mit einer Schaufel aus dem Gartenschuppen ihrer Mutter in den Wald zurück. Sie überlegte, was der Sheriff wohl von ihrem Besuch in dem leeren Haus halten würde – und von dem, was sie darin zurückgelassen hatte. Der Werkzeugkasten, den sie sich an einem Riemen über die Schulter gehängt hatte, schlug gegen ihre Hüfte, als sie sich, einem schmalen Lichtstrahl folgend, einen Weg zwischen den Bäumen hindurch bahnte. Die kleine Taschenlampe zeigte ihr jede Wurzel, jeden Stein. Als sie einen Farnwedel aus dem Gesicht streifte, fuhr der Strahl der Taschenlampe über ihre Hand, und sie erstarrte.
Die langen roten Fingernägel waren eingerissen und abgebrochen, der Lack blätterte ab. Die Haut war wund und voller Kratzer, die Knöchel blau von Blutergüssen. Einen Augenblick besah sie sich den Schaden geradezu fassungslos, als seien abgebrochene Fingernägel in ihrer Welt etwas Unvorstellbares. Und so war es ja auch.
Schon als Zehnjährige war sie fanatisch ordnungsliebend gewesen, hatte sich keine Sprünge in der Fassade erlaubt, duldete in ihrer Umgebung keinen Gegenstand am falschen Platz. Ihre Pflegemutter, die verstorbene Helen Markowitz, hatte auf Ordnung und Sauberkeit im Haus gehalten, und Kathy, die Helen abgöttisch geliebt hatte, übernahm diese Haltung als Weltanschauung – eine Weltanschauung, in der es keinen Gott gab, dafür aber sämtliche dem lieben Gott und professionellen Putzfrauen bekannten Mopps und Bürsten, Putzmittel und Scheuerpulver. In Mallorys New Yorker Eigentumswohnung gab es eine Kammer, in der Dosen, Flaschen und Krüge in Reih und Glied aufgereiht waren wie kleine Soldaten im Dienst der überordentlichen Mallory, die nur da Beschädigungen aufwies, wo man es nicht sah.
Bis jetzt.
Sie lehnte die Schaufel an einen Baum und schlug die Hände vors Gesicht. Sie war jetzt so erschöpft, als habe man ihr alle Luft aus den Lungen, alles Blut aus den Adern gepumpt. Am liebsten hätte sie sich hingesetzt, um nie mehr aufzustehen. Der Tag war so lang wie ein Jahr, war schmerzlich und schwer gewesen – aber erst jetzt, beim Anblick von abblätterndem Nagellack und abgebrochenen Fingernägeln, war sie einem Zusammenbruch gefährlich nah.
Sie hatte alles verloren – nicht nur ihre Familie, sondern auch wichtige Erinnerungen. Sie hatte nicht mehr gewusst, wie der Hund hieß, der in ihren Armen gestorben war. Nun war sie wieder allein, ein Zustand, den sie der Gesellschaft von Menschen, die sie früher oder später doch wieder verlassen würden – durch Tod oder so wie heute Abend Charles immer vorgezogen hatte.
Mallory knipste die Taschenlampe aus, holte tief Luft und gewann allmählich ihre Fassung zurück. Wäre es in diesem Moment hell genug gewesen, ihr Gesicht zu erkennen, hätte man ihr, als sie wieder nach der Schaufel griff und weiterging, nicht den geringsten Kummer und auch sonst keine Gemütsbewegung angesehen.
Sie kam zu der Lichtung, wo sie den Hund versteckt hatte, nahm die Zweige von dem Kadaver und zog die schwarze Ledertasche aus einem hohlen Baum.
Dann leuchtete sie mit der Taschenlampe in die Höhlung, wo Insekten in wilder Aufregung durcheinander krabbelten, um der plötzlichen Helligkeit zu entkommen. Hinter der Ledertasche hatte sie eine Leinentasche mit elektronischem Gerät versteckt. Die holte sie jetzt heraus und steckte die Lederschlinge, den Werkzeugkasten und ihren Minicomputer hinein.
Als alles wieder sicher verstaut war, machte sie sich an die traurige Arbeit, ein flaches Grab zu schaufeln. Sie würde später noch einmal wiederkommen und die Stelle ordentlich beschweren. Jetzt war es erst einmal wichtig, ihn zu begraben. Bei Tag wäre es noch schwieriger gewesen, nicht wegen der Gefahr, sondern weil sie ihn dann so hätte sehen müssen, wie er gestorben war – als altes, krankes Tier. In der
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