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Der steinerne Engel

Titel: Der steinerne Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol O'Connell
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Dunkelheit fiel es ihr leichter, sich den Labrador in seinen besten Jahren vorzustellen, als sie unzertrennlich gewesen waren.
    Braver Hund.
    Sie hatte gerade den ersten Spatenstich getan, als hinter ihr der Schuss fiel.
    Er hatte getroffen. Sie ließ die Schaufel fallen, holte die Waffe aus dem Schulterhalfter, wirbelte herum und schoss nach oben in die Bäume. Sie hatte kein Ziel im Visier – das Laub war eine einzige schwarze Masse –, sondern ließ sich einzig und allein von ihrem Instinkt leiten. Beides half ihr, in der Finsternis eine Gestalt zu erahnen, so wie gejagte Tiere noch in dem, was der Jäger für vollkommene Stille hält, leiseste Laute hören können.
    Schwer und mit einer großen Schusswunde in der Brust stürzte Fred Lauries Leiche vom Baum.
    Mallory nickte zufrieden. Sie hatte sich wegen der größeren Durchschlagskraft für die.357 Magnum entschieden. Eine gute Wahl, dachte sie, während sie das betrachtete, was einst ein menschliches Wesen gewesen war.
    Mallory die Maschine war wieder in Aktion getreten.
    Als sie die Waffe ins Halfter steckte, spürte sie die klebrige Nässe an der linken Schulter und ertastete die Austrittswunde. Die Waffe, die neben dem Toten am Boden lag, war eine Flinte Kaliber.22. Mit so einem Spielzeug konnte man vielleicht Frösche erledigen – für die Menschenjagd hätte er sich eine andere Waffe zulegen sollen.
    Trottel.
    Noch tat die Wunde nicht weh, aber der Schmerz würde nicht lange auf sich warten lassen. Sie tastete über ihre Schulter und fand die Einschusswunde. Demnach steckte die Kugel nicht mehr im Körper, und das war gut. Nicht so gut war, dass sie aus zwei Wunden blutete. Aber sie würde sich schon durchschlagen. Als sie klein war, hatte Tom Jessop ihr einmal erzählt, dass im Wald dutzendweise kleine Tiere herumliefen, die einer dieser widerlichen Laurie-Brüder angeschossen hatte. Die meisten, hatte der Sheriff gemeint, erreichten trotzdem ein gesegnetes Alter.
    Sie lauschte auf Schritte im Wald. Irgendjemand musste doch den Schuss gehört haben und der Sache nachgehen. Doch sie hörte nichts und sah nichts – außer dem ein paar Meter von ihr entfernten Toten. Mallory ließ Hund, Reisetasche und Leiche liegen und setzte sich in Bewegung.
    Sie hatte Mallorys Spur verloren, aber das machte nichts. Lilith lief schon so lange, dass sie keine Erschöpfung mehr spürte und ihre Gedanken seltsam klar geworden waren. Sie wusste, wohin Mallory wollte. Sie waren miteinander verbunden, bewegten sich gemeinsam durch Zeit und Raum.
    An der Friedhofsgrenze blieb Lilith stehen. Cass Shelleys Engel sah aus, als würde er sich gleich in die Lüfte erheben. Sie ging um die ausgebreiteten Flügel herum nach hinten, und dort fand sie sein Ebenbild. Mallorys kreidebleiches Gesicht tauchte aus dem steinernen Faltenwurf des Engelsgewandes auf. Gleich darauf war sie fort, und Blut tropfte von dem Marmor, als sei der Stein verletzt. Deputy Beaudare rannte hinterher. Mallory verschwand schon im Wald, einen Augenblick sah man ihr goldenes Haar noch zwischen den Blättern hindurchschimmern, dann war sie hinter dem dichten Laubwerk nicht mehr zu sehen. »Wenn du weiterläufst, verlierst du zu viel Blut!«, rief Lilith in die Nacht hinein.
    Das Lachen, das ihr antwortete, brachte sie fast aus der Fassung. Lilith lief schneller. Das goldene Haar war jetzt wieder zu sehen, und der Abstand verkürzte sich. Dann kippte Mallory vornüber und stürzte zu Boden. Keuchend blieb Lilith über ihr stehen. Sie zog ihre Waffe und hielt sie mit beiden Händen, wie man es sie gelehrt hatte.
    Mallory stöhnte. Sie blutete aus einer Wunde am Rücken. Lilith kniete sich hin, richtete den Pistolenlauf zum Himmel und rollte Mallory mit einer Hand herum. »Wer hat das getan?«
    Sie erschrak, als sie sah, dass Mallory einen Revolver in der Hand und den Finger am Abzug hatte und dass dieser Finger sich unheimlich langsam krümmte.
    Lilith erstarrte.
    »Ich bin nicht dazu da, dir das kleine Abc beizubringen, du Anfängerin«, sagte Mallory, auf einen Arm gestützt. »Wann lernst du endlich was dazu?«
    »Durch das Gerenne hast du jede Menge Blut verloren. Aus dem Wald hier kommst du nicht mehr lebendig raus.«
    »Na und? Du bist ja nicht mal ein richtiger Cop.« Mallory lächelte jetzt. »Ich weiß, dass die Feds dich aus der bundesstaatlichen Polizei angeworben haben.«
    »Du kannst gar nicht wissen …«
    »Nein?« Mallory hatte sich aufgesetzt. »Jeder Trottel hätte sich das ausrechnen können.

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