Der steinerne Engel
sie scharf. »Jetzt siehst du schon eher aus wie ein Cop. Ich will dir noch einen Gefallen tun, damit du nicht zu erklären brauchst, wie du deine Dienstwaffe losgeworden bist.« Mallory warf den,38er Colt ins dichte Unterholz. Es war ein erstaunlich weiter Wurf, und im dunklen Laubwerk verlor Lilith das stumpf glänzende Metall aus den Augen.
»Damit bist du eine Weile beschäftigt.« Mallory deutete auf die Taschenlampe. »Da sind bestimmt frische Batterien drin.« Sie lächelte. »Du überprüfst sie jeden Morgen, stimmt’s?« Unausgesprochen schwang darin ein Dumme Gans mit.
Mit geballten Fäusten starrte Lilith auf das Dickicht, in dem ihre Waffe verschwunden war. Wut verdrängte alle anderen Gefühle. »Ich krieg dich schon noch, Mallory. Und zwar sehr bald.«
Als sie sich umdrehte, war die Stelle, an der Mallory gestanden hatte, leer.
»So’n Quatsch«, sagte eine Stimme in der Dunkelheit.
Mallory watete durch das hüfthohe Wasser und das Geschlinge der Schwimmpflanzen am Finger Bayou und zog sich an herausragenden Wurzeln und Schösslingen am Ufer entlang. Der Boden war glitschig, sie hatte Mühe, ihr Gleichgewicht zu halten. Die Wunden bluteten stark. Das Blut rann an ihrem Rücken herunter und mischte sich mit dem schwarzen Wasser des Bayou, so dass sie keine Spuren hinterließ.
Der Schock hatte eingesetzt, und der Blutverlust schwächte sie, so dass sie nicht mehr so schnell vorankam. Unvermittelt gaben die Beine unter ihr nach. Sie fiel auf die Knie, ohne den scharfkantigen Zweig im Flussbett zu spüren, der ihr das Bein zerschnitt. Sie angelte nach einem Schössling, griff daneben, fiel ins Wasser zurück. Jetzt reichte ihr Arm nicht mehr bis zum Ufer. Sie versuchte sich aufzurichten, aber weil sie sich nirgends festhalten konnte, rutschte sie immer wieder aus. Möglichst lautlos um ihr Gleichgewicht kämpfend, rutschte sie erst in die eine, dann in die andere Richtung, verlor immer mehr Blut und war schließlich so erschöpft, dass sie mit geschlossenen Augen vornüber ins Wasser fiel.
Als sie die Augen wieder öffnete, lag sie auf festem Grund, energische Hände massierten ihren Rücken, und Wasser schoss aus ihrem geöffneten Mund. Dann fielen ihr die Augen wieder zu, und nur undeutlich nahm sie wahr, dass ihre Fersen Rillen im Gras zogen, als jemand sie über den Boden schleifte.
Eine Stunde lang geisterten gelbe Scheinwerferkegel durch den Wald, dann gaben Malcolm und Ray Laurie die Suche nach Fred für diese Nacht auf. Die Brüder belegten ihn mit wenig schmeichelhaften Namen, während sie heimfuhren und sich eine Geschichte für Freds Frau ausdachten, damit sie nicht auf die Idee kam, dass er mit einer Peepshow-Schönen im Bett liegen könnte.
Im Wald wurde es wieder still, man hörte nur die Rufe der Eulen und nachtaktiven Kleintiere. Gegen Morgen knirschte der Kies der Friedhofswege unter dem Schritt zweier Männer. Der Laut erschreckte die Feldmäuse und die Nachtvögel, die sie jagten. So leise wie möglich schlichen sich die Männer an den steinernen Engel heran, banden ein Seil um seine Schwingen und zogen die Figur zu Boden. Auch sie wurde in der Dunkelheit weggeschleift.
14
Charles Butler hatte seinen Schlips abgelegt und sich den Einheimischen angepasst. Das weiche Baumwollhemd war an den Schultern ein bisschen knapp, ansonsten aber – genau wie die Jeans und Wanderstiefel – wunderbar bequem. Der Besitzer des Gemischtwarenladens von Dayborn war hocherfreut, dass er auf diese Weise die Übergrößen los wurde, die niemand sonst kaufte, weil Riesen in St. Jude Parish selten waren. Charles, der mit dem Kopf an den Türrahmen aus dem achtzehnten Jahrhundert stieß, war der ideale Kunde.
Jetzt saß er auf einer hölzernen Bank, betrachtete durch das Oberlicht des Ateliers die letzten Sterne am frühen Morgenhimmel und trank frisch gebrühten Kaffee.
»Es ist unchristlich früh«, sagte Henry Roth , »aber solche Arbeiten führt man am besten im Dunkeln aus. Es ist sehr nett, dass Sie mir helfen wollen.«
»Das tu ich doch gern.«
Charles folgte dem Bildhauer und seiner Rollpalette zu der Rampe hinter dem Atelier. Eine einzige nackte Birne beleuchtete eine Gruppe weiß verhüllter Figuren, die kreisförmig auf dem einstigen Altar angeordnet waren. Charles zählte elf in abgestuften Größen. »Sind sie aus einem bestimmten Grund verhüllt?«
»Das ist meine Privatkollektion.«
Langsam zog Henry Roth die Hüllen weg. Der größte Engel war an die drei Meter
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