Der steinerne Engel
bisschen primitiv.«
»Nicht auf Max Candles Niveau?«
»Bei weitem nicht. Nur Protz und keine Eleganz.« Als Charles zufällig wieder nach unten sah, wurde er nachdrücklich daran erinnert, dass er auf einem Telefonmast saß. Die Erde geriet ins Wanken – oder war es sein Magen, der verrückt spielte?
»Hat dein Vetter sich auch mal mit Ikonen und frommen Wundern befasst?«, fragte sie. Das klang wie beiläufig dahingeplaudert, war es aber wohl kaum; denn mit Plaudern hatte Mallory nichts am Hut.
»Nein, aber in der Branche kannte Max sich natürlich aus.« Er sah wieder auf seine Hemdbrust, auf der sich Mallory durch eine Reihe von Diagrammen klickte, bis sie das Gewünschte gefunden hatte.
»Könntest du Henry ein paar Tipps für ein kleines frommes Wunder geben?«
Zunächst hatte er Gelegenheit, Mallorys Wunder zu betrachten. Sie tippte auf ihr Keyboard, und in Owltown gingen die Lichter an.
»Werden die nicht merken, dass du hier im Stromnetz herumpfuschst und …«
Sie warf ihm einen gekränkten Blick zu. »Die Elektrizitätsgesellschaft wird ein Team losschicken, um die Leitungen zu überprüfen. Zehn Meilen weiter werden sie bei der Hauptleitung das Problem finden und sich sagen, dass die Störung auch auf die Nebenleitungen übergegriffen hat. Ich hab dort ein Eichhörnchen hingelegt. Es ist kohlschwarz verbrannt.«
»Du hast …«
»Wär’s dir lieber, wenn ich dir sagen würde, das Eichhörnchen wäre eines natürlichen Todes gestorben, ehe ich es hab verschmoren lassen?«
Der Spott war sanft, traf ihn aber empfindlich, weil er daran wieder einmal erkannte, dass sie ihn für einen Einfaltspinsel hielt. »Du hast offenbar nichts dem Zufall überlassen, wollte ich eigentlich sagen. Und jetzt musst du mich entschuldigen. Es war ein langer Tag, und ich bin es leid, den Trottel zu spielen.«
Er hatte schon den Abstieg begonnen, als er ihre Hand auf seinem Arm spürte.
»Bleib«, sagte sie.
Er zögerte.
Es war nicht ganz der Ton, in dem sie mit einem Hund gesprochen hätte. Im Gegenteil: Bei Mallory hörte sich dieses eine Wort fast wie eine Entschuldigung an.
Ihr Griff wurde fester, als müsste sie ihn gewaltsam zurückhalten. Dabei wäre das nicht nötig gewesen. Es war noch nie nötig gewesen. Er sah Mallory plötzlich so klar wie auf einem gestochen scharfen Foto, während sie sich über das gefährliche Gewirr der stromführenden Kabel beugte. Das Messgerät in ihrer Hand blinkte rot. Ihre Lippen streiften seine Wange, sein Ohr. »Ich bring nicht noch mal ein Eichhörnchen um. Ehrenwort.«
Und dann lagen ihre Lippen auf seinem Mund. Er rührte sich nicht und hätte sich auch nicht gerührt, wenn er auf einem Nagelbrett gestanden hätte. Er hörte das Summen in den Telefondrähten und spürte die Schwingungen des Masts wie einen elektronischen Herzschlag. Vor dem computerblauen Leuchten ihrer Haut musste er die Augen schließen.
Es war zu kurz, viel zu kurz. Während sie ein wenig von ihm abrückte und sein Hochgefühl sich langsam verflüchtigte, überlegte er, ob sie sich über ihre Wirkung auf ihn im Klaren war. Normalerweise tat ja Mallory nichts ohne Absicht … Die Frage, warum sie ihn geküsst, was sie damit bezweckt hatte, würde ihm schlaflose Nächte bereiten.
Oder auch nicht.
Es war nicht wichtig, warum sie es getan hatte. Und hätte sie ihn darum gebeten – er wäre bedenkenlos von dem Mast gesprungen und hätte zwanzig Eichhörnchen getötet. Er wusste, dass sie ihn um etwas bitten würde.
»Ich möchte, dass du nach New York zurückfährst, Charles. Heute Abend noch.«
Warum konnte sie nicht etwas ganz Unkompliziertes von ihm verlangen – sein Blut bis auf den letzten Tropfen zum Beispiel? Es wäre ihm nicht schwer gefallen, für Mallory zu sterben, aber verlassen würde er sie nie, das durfte sie nicht von ihm erwarten. Ohne sie nach New York zurückzufahren war undenkbar. Er schüttelte den Kopf.
»Henry wird mir helfen. Ich brauche dich nicht, Charles.«
»Besten Dank für die Blumen …«
»Du kennst dich hier nicht aus, du kannst nicht …«
»Gute Nacht.« Er stieg langsam nach unten. Die Sprossen waren eiskalt. Er starrte auf den Mast und nahm sich fest vor, Mallory nicht noch einmal anzusehen. Wenn er nicht sah, wie sie zum Schlag ausholte, hatte sie keine Macht über ihn.
So’n Quatsch , pflegte Mallory in solchen Fällen zu sagen.
»Wo willst du hin?« Dass er einfach ging, ohne sie um Erlaubnis zu fragen, war ihr offenbar nicht recht.
Das hast du nun
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