Der steinerne Engel
nicht gewagt, sie zu unterbrechen oder gar mit ihr zu diskutieren.
Ob sie ihm jetzt, da er als lebender Monitor Teil ihres Computers geworden war, ein bisschen mehr Platz in ihrem Herzen einräumen würde? Falls Mallory überhaupt ein Herz hatte … »Als Nächstes wirst du dann wohl das elektronische Buch angehen.« Seine Angst, die geliebten Bücher, in denen man blättern konnte, könnten sich in seelenlose Megabyte-Monster verwandeln, wuchs von Tag zu Tag.
»Du musst dich endlich vom zwanzigsten Jahrhundert verabschieden, Charles. Es ist so gut wie vorbei.«
»Demnach hältst du nichts von meiner Theorie, dass eines Tages die Maschinenstürmer die Erde besitzen werden?« Dumme Frage! Sie wussten beide, dass die Zukunft in Wahrheit ihr und ihresgleichen, diesen erstaunlichen Kindern des Computerzeitalters, gehörte.
Er sah auf das Diagramm, das auf seinem Hemd leuchtete. »Was ist das?«
»Das Stromnetz einer Elektrizitätsgesellschaft. Für die hab ich auch mal gearbeitet. Schau!« Sie wies auf das unter ihnen liegende Dayborn. Erst gingen die Lichter in Dayborns Häusern und im benachbarten Owltown aus, danach wurden die Straßenlaternen nacheinander ein- und ausgeschaltet, und unvermittelt war es in Dayborn wieder hell. Owltown und das ganze Gebiet diesseits des Upland Bayou lagen weiter im Dunkeln.
»Gut, nicht? Es hat mich eine Menge Arbeit gekostet, überall getrennte Schaltungen anzubringen.«
Nun wusste er, wo sie vom Frühjahr bis zum Herbst gewesen war. Sie hatte Fallen gestellt, geplant, Ränke geschmiedet. »Und wie lange hast du fürs Finanzamt gearbeitet?«
»Gut kombiniert, Charles. Aber das, was ich brauchte, hab ich mir schon beim Leistungstest runtergeladen. Zum Einstellungsgespräch hab ich es gar nicht mehr kommen lassen.«
Die Unterlagen des Finanzamts gaben Aufschluss darüber, welche Bürger hier vor siebzehn Jahren gelebt hatten, wer gestorben, wer verzogen war. Inzwischen hatte sie sich vermutlich Bankauszüge und Kreditauskünfte beschafft, wusste, wer wie viel Schulden, wer wie viel an Kirchen und Wohlfahrtsorganisationen gespendet hatte. Es war anzunehmen, dass sie monatelang die Telefongespräche in Dayborn abgehört hatte, um Informationen für ihre Rückkehr zu sammeln.
»Die Steuerbemessungsgrundlagen waren nützlich für meine Liste.«
»Deine Liste? Führen denn alle hier diese verdammten Listen? Es geht dir um den Mob, nicht? Um die Menschen, die deine Mutter umgebracht haben.«
Mallory sah ihn erstaunt an. »Wer führt noch Listen?«
»Henry hat eine, der Sheriff auch. Hat Henry dir das nicht erzählt?«
»Wir hatten nicht viel Zeit zum Reden, es gab sehr viel zu tun.«
»Das sehe ich.«
Sie legte eine Hand auf die seine. »Was ist mit der Liste des Sheriffs?«
»Jessop hat die Ermittlungen zum Mord an deiner Mutter nie eingestellt. Er quält seine Verdächtigen. Zumindest von zweien weiß ich es – Alma Furgueson und dem Deputy.«
»Travis? Der Sheriff glaubt also, dass Travis zu der Bande gehörte?«
»Ja. Und dafür lässt er den Mann bitter büßen.«
Er glaubte, etwas wie Bedauern in Mallorys Augen zu sehen, aber weil es das erste Mal war, dass er eine solche Regung darin entdeckte, war er sich nicht ganz sicher. »Hast du nicht gewusst, dass er nie aufgegeben hat?« Nein, ganz offenbar hatte sie das nicht. »Im Grunde seid ihr beide auf derselben Seite, du brauchst dich nicht zu verstecken. Du könntest …«
»Er ist ein Cop, Charles – im Gegensatz zu mir. Ich darf dich daran erinnern, dass ich meine Dienstmarke in New York gelassen habe.«
»Was hast du dir in den Kopf gesetzt, Mallory? Selbstjustiz? Von Henry weiß ich, dass zu der Meute an die dreißig Leute gehörten. Die kannst du ja doch nicht alle erledigen.«
»O doch«, sagte sie gelassen, und dann – im gleichen Tonfall: »Gibst du mir mal die Zange rüber?«
Er nahm die Zange von der Querverstrebung und reichte sie ihr. »Aus meiner Sicht wäre es zunächst mal logisch zu ermitteln, wer Babe Laurie umgebracht hat. Wenn du dann den Verdacht los bist …«
»Warum sollte ich mich dafür interessieren, wer Babe Laurie umgebracht hat?«
»Aber fragst du dich denn nicht, warum Babe sterben musste?«
»Völlig unwichtig«, erwiderte sie leicht gereizt, um dann rasch das Thema zu wechseln. »Wie fandest du die Show heute Abend?«
»Welche? Deine oder die von Malcolm?«
»Den Zirkus, Charles.«
»An den Zauberkunststücken müssen sie noch arbeiten. Für meinen Geschmack sind sie ein
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