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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Abenteuers, in das sie geraten war, in Verbindung zu bringen, dieses ruhige, heitere Pariser Leben ins Räderwerk ihres eigenen Alptraums hereinzuzerren?
    Hinter ihr ertönte ein Geräusch. Sie drehte sich zum Haus um und spähte den Flur entlang. Keine Menschenseele. Doch das Geräusch wiederholte sich, deutlicher diesmal. »Ich ruf dich wieder an«, murmelte sie und beendete die Verbindung.
    Im selben Moment tauchte etwa zwanzig Meter entfernt eine schemenhafte Gestalt auf, ein kleiner Mann mit langem Mantel und schiefer Tschapka, und obwohl er ihr den Rücken zukehrte, fiel Diane das Foto des tsewenischen Physikers wieder ein, auf dem er denselben Hut trug. »Talich …«, flüsterte sie vor sich hin.
    Sie folgte ihm. Die Gestalt schwankte leicht und stützte sich von Zeit zu Zeit an der Wand ab, und Diane fiel auf, dass der rechte Ärmel bis zum Ellenbogen aufgekrempelt war. Der Mann erreichte jetzt das andere Ende des Flurs. Er beugte sich zur Wasserpumpe, die es auf jedem Stockwerk gab und die eine Art Gemeinschaftsbad darstellte. Diane trat näher. Die Gestalt pumpte mit der Linken und hielt den rechten Arm unter den Wasserhahn. Noch kam kein Wasser.
    Sie erstarrte. Instinktiv drehte sie den Kopf nach rechts zur Wand und erblickte den Abdruck einer kleinen Hand: einen blutigen Abdruck. Unmittelbar darauf sah sie wieder zu der gebeugten Gestalt und erkannte sehr deutlich die schwärzlichen Schlieren an dem ausgestreckten nackten Arm. Diane war wie vom Donner erstarrt, als sie erfasste, was das bedeutete: Der Mörder war hier, wenige Meter von ihr entfernt. Er hatte wieder zugeschlagen, mitten in einem Kloster.
    Der Mann drehte sich zu ihr um: Unter der Tschapka war sein Gesicht vermummt. Durch die Schlitze in der schwarzen Wolle starrte Diane ihm in die Augen, die wie zwei Lackkleckse funkelten, und hatte auf einmal das Gefühl, dass er ihre Gedanken gelesen hatte – dass er, wie in einem Spiegel, im Blick der Frau sich selbst als Mörder gesehen hatte. In der nächsten Sekunde war er verschwunden. Ohne zu überlegen, was sie tat, sprintete Diane los. Sie bog um die erste Ecke – und hielt abrupt: Vor ihr war gähnende Leere. Gut fünfzig Meter zog sich der Flur hin; der Mörder konnte diese Strecke nicht in wenigen Sekunden zurückgelegt haben. Die Zimmer. Er hatte sich in einer der Zellen auf dem Stockwerk versteckt …
    Langsam ging sie weiter und musterte jede Tür zu beiden Seiten des Flures. Auf einmal spürte sie einen kalten Windhauch und blickte auf. Ein Oberlicht stand offen. An der Wand links davon zog sich eine Art unregelmäßiges Spalier in die Höhe – eine perfekte Leiter. Mit beiden Händen auf das hölzerne Fensterbrett gestützt, schwang sie sich hinauf.
    Die Schönheit der Nacht überwältigte sie. Der indigoblaue Himmel, übersät von Sternen. Das sanfte Gefalle des Ziegeldachs. Der geschwungene Überhang, der wie der Bug eines antiken Schiffs ins Leere ragte. Es kam ihr vor, als hätte sie eine Wand aus Reispapier durchschritten, wäre in ein asiatisches Gemälde eingedrungen und bewegte sich wie ein tuschegetränkter Pinsel in einer Zeichnung – im Sinnbild der Anmut schlechthin.
    Es war niemand zu sehen. Eine Zuflucht bot allenfalls der Kamin. Diane kletterte aufs Dach und kroch auf den First zu. Trotz Angst und Kälte ließ der Zauber sie nicht los: Sie bewegte sie sich über einem Meer aus Terrakotta mit kleinen roten Wellen. Schließlich war sie auf dem Dachfirst angelangt und näherte sich dem Kamin. Zögernd sah sie sich um. Kein Mensch. Kein Laut, nicht das leiseste Atmen.
    Doch im selben Moment erkannte sie unmittelbar über sich den Schatten eines Menschen, der gekrümmt auf dem Kamin kauerte. Wieder hatte sie den Eindruck, dass der Mörder ihre Gedanken lesen konnte, sodass auch sie intuitiv seinen Entschluss erfasste: Er musste sie umbringen, damit sie nicht reden konnte. In dem Sekundenbruchteil, den sie für diese Erkenntnis brauchte, schwoll der dunkle Knoten an und streckte sich zu einem schwarzen Strich. Gleich darauf zermalmte sie ein schreckliches Gewicht. Diane fiel, doch eine Hand hielt sie fest, und sie schaute auf: Da war er, hielt sie am Pullover gepackt und kauerte wie ein Tier auf dem First über ihr. Der Schirm seiner Mütze ragte ins Blau der Nacht.
    Diane hatte nicht die Kraft, sich zu wehren, noch mehr als das Entsetzen drückten Erschöpfung und Verzweiflung sie nieder. Und noch etwas Dumpferes, Undeutlicheres, das immer mächtiger wurde: das Gefühl,

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