Der steinerne Kreis
Tracht bodenlange Plastikschürzen trugen, reglos Wache. Rund um dieses Stillleben marschierten Polizisten mit gepolsterten Mänteln chinesischer Art, auf dem Kopf die rot und gold bestickte Mütze, auf dem gefrorenen Boden auf und ab und hauchten sich in die Hände, um sie zu wärmen.
Mit Diane und Giovanni im Gefolge trat der Polizeichef auf den Tisch zu. Diane begriff nicht, warum sie hierher gebracht worden waren: Sie konnten in diesem Fall kaum als Verdächtige gelten, auch nicht als Zeugen – ihre Begegnung mit dem Mörder hatte sie verschwiegen. Vielleicht vermutete der lederne Polizist irgendeine Verbindung zwischen ihnen und dem Opfer – schließlich waren sie die einzigen Europäer im Kloster gewesen.
Mit einer schroffen Handbewegung enthüllte der Mann Gesicht und Oberkörper des Toten.
Diane musterte das hagere, scharfkantige Gesicht, die gelben Haare. Gelb war auch die über die Knochen gespannte Haut, allerdings mit einem Stich ins Bernsteinfarbene. Aber es war etwas anderes, das ihre Aufmerksamkeit erregte: Der Tote war übersät von braunen Flecken, nicht nur im Gesicht – noch viel zahlreicher waren diese Altersflecken am Oberkörper. Schwarz, leicht gekörnt, mit unregelmäßigen Umrissen, überzogen sie die gesamte Haut mit einer rastlosen Geographie. Einen Moment lang musste sie an die Fellzeichnung eines Leoparden denken.
Dann bemerkte sie den feinen Einschnitt unterhalb des Brustbeins – das Markenzeichen des Mörders. Sie ballte die Fäuste in den Manteltaschen. Dann beugte sie sich vor und musterte den Schnitt. Jochums Brust war leicht nach außen gewölbt, als stemmte sich von innen etwas dagegen: Dieser Rumpf trug noch den Abdruck des Arms, der sich zwischen warmen, lebendigen Organen unter den Rippen hindurch zum Herzen vorgeschoben hatte.
Sie schaute auf: Alle Blicke waren auf sie gerichtet, und an den konsternierten Mienen ringsum erkannte sie, was die Feststellung der Todesursache für diese Männer bedeutete. In Paris war die Mordmethode lediglich ein Hinweis auf den pathologischen Geisteszustand des Mörders und hatte darüber hinaus keine Bedeutung. In Ulan Bator war das ganz anders: Hier wusste jeder, was diese Wunde war, jeder war mit der Technik vertraut. Der Mörder brachte sein Opfer absichtlich mit derselben Methode um, wie er ein Tier getötet hätte – und würdigte es damit zu Schlachtvieh herab. Sie dachte an Jewgenij Talich und dachte an die Überzeugung, zu der sie im Flur des Klosters gelangt war: Wenn tatsächlich er diese Leichen auf dem Gewissen hatte, musste man sich die Frage stellen, was passiert war, dass ein harmloser Physiker sich in einen grausamen Mörder verwandelte. Übte er Rache? Was für eine Schuld hatten die Männer auf sich geladen, dass sie wie Vieh getötet wurden?
Der Polizist trat einen Schritt auf Diane zu und baute sich vor ihr auf. Noch immer hielt er die beiden Pässe in der Hand. Unverwandt starrte er Giovanni an und sagte etwas zu ihm.
Der Italiener dolmetschte wieder: »Er will wissen, ob Sie den Mann gekannt haben.«
Diane schüttelte den Kopf. Sie fürchtete, der Polizist könnte sie womöglich im Rahmen einer Ermittlung oder sonst irgendeiner bürokratischen Maßnahme hier behalten – aber sie hatte nur noch drei Tage, um den Tokamak zu erreichen. Leise teilte sie Giovanni ihre Befürchtungen mit. Der Diplomat führte einen kurzen Wortwechsel mit dem Riesen, woraufhin dieser wider Erwarten in Gelächter ausbrach und mit einer knappen Bemerkung antwortete.
»Was sagt er?«, fragte sie beklommen.
»Wir haben eine offizielle Genehmigung. Es gibt keinen Grund, uns zurückzuhalten.«
»Und was findet er daran so lustig?«
»Er meint, wir hätten sowieso keine Möglichkeit zu fliehen.«
»Wieso?«
Der Italiener lächelte dem Polizisten höflich zu, dann warf er Diane einen Blick aus dem Augenwinkel zu. »Wörtlich hat er gesagt: Aus einem Gefängnis kann man fliehen. Aber aus der Freiheit?«
KAPITEL 56
Die Tupolew, mit der sie diesmal flog, hatte nicht einmal mehr Sitze, und das Cockpit war nicht von der Kabine abgetrennt. Es war ein Transporter mit grauen Wänden, hundert Meter lang, und hatte als einzige Innenausstattung Netze, die als Gepäckaufbewahrung oder Haltegriffe für die Passagiere dienten. Mehrere Hundert Mongolen drängten sich Seite an Seite zusammen, saßen auf dem Boden, drückten ihre Taschen, Kisten, Bündel an sich und versuchten, Kinder und Schafe zu besänftigen.
Diane kauerte zwischen
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