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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Wollmantels. Sie fand einen olivgrünen Reisepass, der, wie sie der Goldprägung auf der Vorderseite entnahm, von der Tschechischen Republik ausgestellt worden war. Sie blätterte darin, las den Namen »Jochum Hugo« und erkannte ohne Mühe das Gesicht auf dem Foto: Es war der gelbhaarige Mann mit der Sonnenbrille, der ein paar Stunden zuvor im Speisesaal des Klosters zusammen mit ihnen zu Abend gegessen hatte. Ein faltiges, wettergegerbtes Gesicht mit braunen Flecken auf der Stirn.
    Wahrscheinlich war auch er einst Mitarbeiter am Tokamak gewesen und hatte sich jetzt auf den Weg zu dem steinernen Ring gemacht.
    Sie durchsuchte die übrigen Taschen, fand aber nichts von Bedeutung. Unterdessen war Giovanni zu ihr getreten und zischelte: »Sie sind doch verrückt, das können Sie nicht machen …«
    Diane reagierte nicht, sondern nahm sich den Koffer vor. Die Schlösser waren nicht versperrt. Mit ein paar raschen Handgriffen durchsuchte sie den Inhalt: hochwertige Unterwäsche, Kaschmirpullover, Markenhemden. Der Mann war offensichtlich erheblich begüterter als die Mehrzahl seiner Landsleute. Sie wühlte weiter. Zwei Stangen Zigaretten. Ein Briefumschlag mit zweitausend Dollar. Und zwischen den Kleidungsstücken ein Buch in deutscher Sprache, herausgegeben von einem Universitätsverlag; als Verfasser firmierte Hugo Jochum.
    »Sind Sie wahnsinnig, gleich werden wir …«, stammelte Giovanni.
    »Können Sie Deutsch?«
    »Wie? Ah … ja, ich …«
    Sie hielt ihm das Buch hin. »Übersetzen Sie mir das. Den Rückseitentext. Und die Angaben zum Autor.«
    Der Italiener warf einen Blick zur Tür. Draußen herrschte vollkommene Stille: Nie hätte man vermutet, dass dort an die dreißig Personen saßen und auf eine Vernehmung warteten. Nervös konzentrierte sich Giovanni auf seine Lektüre.
    Diane stöberte unterdessen weiter, aber sie fand nichts – keine Waffe, nicht einmal ein Messer. Der Mann war nicht misstrauisch gewesen. Und er kannte sich aus im Land: In seinem Koffer fand sich keine Karte, geschweige denn ein Reiseführer.
    »Unglaublich«, sagte Giovanni auf einmal.
    Sie drehte sich zu ihm. Das Gegenteil hätte sie erstaunt. Mit einer Kopfbewegung forderte sie ihn zum Reden auf.
    »Er war Professor für Geologie am polytechnischen Institut der Karls-Universität in Prag.«
    »Was ist daran unglaublich?«
    »Dass er außerdem über übernatürliche Fähigkeiten verfügte. Hier steht, er sei beispielsweise in der Lage, magnetische Kräfte zu erzeugen und Quellen tief unter der Oberfläche zu entdecken.« Giovanni schüttelte den Kopf.
    Im Geist vervollständigte Diane die Liste der Parapsychologen vom TK 17: Jewgenij Talich und die Bioastronomie, Rolf van Kaen und die Akupunktur, Philippe Thomas und die Psychokinese. Und jetzt Hugo Jochum und der Biomagnetismus.
    Auf der Türschwelle erschien eine Gestalt.
    Blitzartig ließ Giovanni das Buch im Koffer verschwinden, und Diane schlug den Deckel zu; dann standen sie mit harmloser Miene nebeneinander, die Hände auf dem Rücken.
    Die Gestalt auf der Schwelle war der Mann, der die Razzia geleitet hatte: ein Koloss in Ledermantel und schwarzer Mütze. Der Polizeichef oder ein vergleichbarer Amtsträger. In der Hand hielt er die Pässe der beiden Europäer, wie um ihnen in Erinnerung zu rufen, wer die Katze und wer die Mäuse waren.
    Er wandte sich an Giovanni, dem er einen Befehl erteilte, auf Mongolisch: abgehackte Silben auf einem Teppich gutturaler Laute. Der Botschaftsattache nickte beflissen, und während er mit seiner Brille auf der Nase hantierte, als wäre sie ein chirurgisches Instrument, dolmetschte er für Diane: »Wir sollen mitgehen und die Leiche ansehen.«
     
     
     
KAPITEL 55
     
    Es war keine Leichenhalle, auch kein Krankenhaus. Diane nahm an, dass es sich womöglich um die medizinische Fakultät oder die Akademie der Wissenschaften von Ulan Bator handelte. Sie betraten ein taghell erleuchtetes Amphitheater, dessen Fußboden aus gestampftem Lehm bestand. In mehreren Blöcken, die zusammen einen Dreiviertelkreis bildeten, stiegen die Reihen der Sitze, jeder mit eigenem Pult, bis knapp unter die Decke empor. An der offenen Seite, über der schwarzen Tafel, hingen noch als riesige Gemälde die Porträts von Karl Marx, Friedrich Engels und Wladimir Iljitsch Lenin.
    In der Mitte des Saals stand, in den Boden eingelassen, ein länglicher Eisentisch. Und darauf lag die Leiche.
    Zu beiden Seiten des Tisches hielten zwei Sanitäter, die über ihrer traditionellen

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