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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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dieselbe Szene schon einmal erlebt zu haben. Sie öffnete den Mund, vielleicht um zu stöhnen, vielleicht um zu flehen, doch der Mann riss sie hoch und zerrte sie hinter sich her zum Dachfirst hinauf. Sie lag auf dem Rücken und rührte sich nicht.
    Das Ungeheuer beugte sich über sie und riss den Mund auf. Langsam, wie bei einer Beschwörung, näherte es die blutigen Finger seinen Lippen, und Diane erkannte auf einmal, was die Hand suchte: Unter der Zunge blitzte eine Klinge. Jäh fuhr sie auf: So konnte sie nicht sterben. Unter ihren Füßen lösten sich Dachziegel, und eine wilde Hoffnung ergriff sie: sich das Dach hinabrollen lassen, ins Leere springen. Sie zog die Beine an und stieß sie dem Mörder gegen die Brust. Dann wälzte sie sich zur Seite und ließ sich halb rollend, halb rutschend über die Lehmziegel abwärts fallen. Die Sekunden verwandelten sich in Stöße. Immer schneller ging es bergab, sie spürte nur noch die Grate der Ziegel, die Kälte der Nacht, die Weite des Abgrunds, der sie erwartete und anzog. Tod. Dunkelheit. Frieden.
    Sie stürzte über den Rand des Dachs und fühlte, wie sie fiel.
    Aber etwas hielt sie auf. Irgendetwas in ihr hatte sich an der Traufe festgeklammert. Splitter unter den Fingern, der eisige Wind, der sie hin und her baumeln ließ – und ihre Hände, die sich weigerten, loszulassen … Es war nicht ihr Geist, es war ihr Körper, der für sie entschieden hatte. Ein Pakt ihrer Muskeln und Nerven – Verbündete, um zu überleben.
    Auf einmal griffen zwei Hände nach ihren Handgelenken. Sie rang nach Luft vor neuerlichem Entsetzen und schaute auf– und erblickte über sich am Himmel Giovannis Gesicht und diesen Ausdruck totaler Verblüffung, den nur er beherrschte. Dann verschwand er wieder. Sie hörte ein angestrengtes Keuchen und fühlte sich in einem Schwung emporgezogen. Wie ein Sack fiel sie auf das Dach, zerbrochen, niedergeschmettert.
    »Alles in Ordnung?«, fragte Giovanni.
    »Mir ist kalt«, war das Einzige, was sie hervorbrachte.
    Er zog seinen Pullover aus und legte ihn ihr um die Schultern. Dann fragte er: »Was ist passiert?«
    Diane saß zusammengekrümmt da und gab keine Antwort. Giovanni kauerte sich neben ihr nieder, und seine Stimme klang heiser. »Die Mönche«, sagte er, »sie haben … einen Toten in einer Zelle entdeckt …«
    Diane schlang die Arme um ihre Knie und wiegte sich langsam vor und zurück. »Mir ist kalt«, wiederholte sie.
    Der Italiener zögerte, dann sagte er leise: »Wir müssen hinunter. Die Polizei wird bald kommen.«
    Sie sah ihn an, beinahe erstaunt über seine Anwesenheit. Sie starrte sein Gesicht an, diese weichen Züge eines verwöhnten Kindes, die Verwunderung eines ganz normalen Mannes, der in einer normalen Welt lebt. Schließlich flüsterte sie: »Giovanni … Sie werden lernen müssen …«
    »Was lernen?«
    Sie spürte Tränen über ihre Wangen rinnen. »Mich kennen lernen.«
     
     
     
KAPITEL 54
     
    Schlaftrunken saßen die Mönche Seite an Seite aufgereiht auf den Bänken entlang dem spärlich beleuchteten Flur. Die Polizisten – die nach Dianes Einschätzung ebenso gut Soldaten sein konnten – hatten sich für eine Razzia entschieden und sämtliche Klosterinsassen zusammengetrommelt und mitgenommen; jetzt drängten sie sich in einem Verwaltungsgebäude irgendwo in Ulan Bator. Es war ein riesiger Würfel aus Beton, durchzogen von langen Gängen, die zu winzigen, kahlen Räumen führten. Die kaputten Fenster waren mit Pappe vernagelt, die Fußböden regelrechte Schlammpfützen und die Zwischenwände von derart vielen Rissen und Sprüngen überzogen, dass die Mauern im Dämmerlicht wie Schieferplatten mit pflanzlichen Einschlüssen aussahen.
    Diane und Giovanni kamen in den Genuss einer Vorzugsbehandlung: Sie durften im Büro eines Offiziers warten, neben einem schwarzen Kanonenofen, der erbarmungslos kalt war. Trotz dicker Vermummung schlotterten sie vor Kälte. Aus irgendeinem geheimnisvollen Grund – oder infolge eines organisatorischen Missgriffs – waren sie mit dem Koffer und den Kleidern des Opfers, die man aus seiner Zelle im Kloster mitgenommen hatte, allein im Raum. Nach einem kurzen Blick durch den Türspalt wandte sich Diane den Sachen zu.
    »Was tun Sie denn da?!«
    In der eisigen Düsternis hatte Giovannis Stimme einen unwirklichen, beinahe magischen Beiklang.
    Ohne ihn anzusehen, antwortete sie: »Das sehen Sie doch. Ich schnüffle.«
    Diane fuhr mit der Hand in die Brusttasche des schwarzen

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