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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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endlich einig.
    Vor allem bemächtigte sich ihrer nach jedem Sturz, nach jedem Lachen eine geheime Melancholie. Wenn sie den Kopf hoben, blickten sie auf die hohen Felswände der Hor’dil-Sar’dag-Kette, die in steinernem Schweigen den Horizont abriegelte. Unversehens erhob sich der Abendwind, um seine Rechte wieder einzufordern, und kühlte ihre erhitzten Gesichter. Ihre Blicke kreuzten sich, und auf einmal erkannten sie, was ihnen jede Windbö zuflüsterte, während das Gras in langen, sehnsüchtigen Wellen auf und nieder wogte: die traurigen Lieder verwundeter Herzen, eines Abschieds ohne Wiederkehr. Als die Nacht hereingebrochen war und sie endlich gelernt hatten, auf den kleinen grauen Tieren zu reiten, hatten sie noch ein weiteres Geheimnis entdeckt: das rastlose Heimweh der Taiga.
     
     
     
KAPITEL 58
     
    Im frühen Morgengrauen machten sie sich auf den Weg.
    Der Viehhirte und sein Sohn hatten sich bereit erklärt, Diane und Giovanni zu begleiten. Aus sieben Rentieren bestand der Konvoi, drei waren als Lasttiere eingesetzt und trugen Gewehre, Kochgeschirr, die Planen und Stangen sowjetischer Militärzelte, in Tuch gewickelte Hammelstücke und eine Vielzahl weiterer Proviant- und Ausrüstungsgegenstände, die Diane nicht näher identifiziert hatte. Sie kamen langsam voran. Die Rentiere pflügten durch das Unterholz der Ebene, schoben sich unter rot-gelb belaubte Äste, arbeiteten sich die ersten felsigen Hänge empor, während sich unter ihren Füßen Schottersteine lösten. Alles war ruhig, gefahrlos, und es wäre eintönig gewesen, hätte sich nicht zunehmend die eisige Kälte bemerkbar gemacht.
    Sie drang in jede Ritze zwischen den Kleidern und ließ die Gliedmaßen erstarren und die Finger und Zehen abfrieren. Jede Stunde mussten sie anhalten, um auf und ab zu laufen, sich zu bewegen, Tee zu trinken – alles, um zu überleben. Während sich die Mongolen mit dem Messer die Lider auskratzten, stampften Diane und Giovanni mit tauben Füßen auf dem Boden, schaudernd, unfähig ein Wort zu sagen, die Arme um den Körper geschlungen. Die Handschuhe auszuziehen kam nicht in Frage – jede Berührung mit einer eisigen Steinfläche hätte ihnen die Haut abgerissen. Man durfte auch nichts kochend Heißes trinken, damit bei dem großen Temperaturunterschied der Zahnschmelz nicht splitterte.
    Doch dann brannte wieder die Sonne mit heißen Strahlen auf die Reiter herab, und jetzt mussten sie die Kapuzen aufsetzen, um sich vor der Gluthitze zu schützen, als wären sie mitten in der Wüste. Der scharfe Wind wurde so hart, so gefräßig, dass es schien, als kehrte er seine Bewegung um und risse die Haut in winzigen versengten Fetzen von den Gesichtern. Dann war die glühende Scheibe am Himmel auf einmal wieder verschwunden, das Gebirge hatte seine unheilvolle Düsternis wieder, die Kälte kehrte zurück und umklammerte die Knochen wie ein eisiger Schraubstock.
    Am frühen Nachmittag nahmen sie den Pass in Angriff, der auf dreitausend Meter Höhe hinaufführte. Die Landschaft verwandelte sich. Unter den tief hängenden Wolken wurde die Gegend schwärzlich und kahl wie auf dem Mond. Die Bäume wurden spärlicher, duckten sich und verschwanden endlich ganz, und an ihrer Stelle blieben nur noch graugrüner Stein, Schluchten, kahle Felsnadeln, das Gras wich Flechten und Moosen. Manchmal führte der Pass durch eintönige Sumpfgebiete, aus denen hier und dort eine einsame Krüppelkiefer ragte, dann wieder schien die Landschaft buchstäblich zu bluten, weil sich ein Meer von Heidekraut ausbreitete, dessen violette Blüten den roten Farbstoff lieferten. Die Tundra, unzugänglich und vergessen, hüllte sie ein wie ein Fluch.
    Diane beobachtete die Vögel am Himmel, die in die entgegengesetzte Richtung flogen – nach Süden, zur Wärme; und sie sah ihnen mit heroischem Stolz nach, bis sie verschwunden waren. Die Lippen weiß von der Schutzcreme, die Brille an den Schläfen abgedichtet, war sie mehr denn je entschlossen, dieses Gebirge zu bezwingen, und sie nahm jede Empfindung, jeden Schmerz befriedigt hin, ja – sie zog daraus noch eine merkwürdige Lust. Für sie war es eine angemessene Prüfung: Es war notwendig, dass sie sich diesem Land stellte. Sie musste über diese Felsflanken aufwärts, musste die Kälte ertragen, die Hitze, diese Wüste aus Granit und Rauheit.
    Weil es Luciens Heimat war.
    Es war, als kehrte sie zum Ursprung ihres Kindes zurück. Die Felswände ringsum, die Hindernisse auf ihrem Weg, die Schrunden

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