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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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in ihrer Haut waren wie die Phasen einer Geburt. Über diesen Pfad aus Granit führte der Weg zu ihrem Adoptivsohn. Diese gnadenlose, erbarmungslose Quälerei war ihre Art der Entbindung, bei der sie Feuer und Eis durchqueren musste, um zu ihrem Kind zu kommen – falls sie überlebte.
    Auf einmal merkte sie, dass die Landschaft sich neuerlich wandelte, die steinerne Härte der Umgebung jetzt von einer überraschenden Sanftheit gemildert wurde. Zarte Flocken schwebten herab und ließen sich nach und nach auf der Tundra nieder. Eine makellose Weiße überstäubte Nadeln und Geäst, umhüllte jede Form, jeden Umriss mit einem samtigen Überzug. Diane lächelte. Sie hatten jetzt den höchsten Punkt des Passes erreicht und drangen in den heiligen Bereich des Schnees ein. Der Zug der Menschen und Tiere bewegte sich durch eine immer feinere, immer durchsichtigere Helligkeit an der Grenze zwischen Erde, Wasser und Luft.
    Unter den lautlosen Schritten der Rentiere wurde der Konvoi unmerklich langsamer, und der mongolische Viehzüchter begann zu brüllen. Die erschöpften Tiere protestierten ihrerseits röhrend, doch sie schlugen eine andere Gangart an, überwanden den weißen Pass und gelangten endlich auf die andere Seite des Berges. Das Gelände wurde flacher, schien zu zögern, senkte sich, zuerst sanft, dann abrupt, und ging in einen Steilhang über, der zwischen Schneeverwehungen und Moosteppichen abwärts führte. Bald wuchsen wieder Gras, Gestrüpp, endlich auch Bäume, die immer zahlreicher wurden, und schließlich standen die Reiter vor einem Abhang, der ins letzte Tal hinabführte.
    Leuchtender Dunst umhüllte die Wipfel der Lärchen, das Laub der Birken strahlte gelb oder rollte sich in silbergrauen Kringeln rund um den Stamm. In dunklem Grün standen Fichten wie eine Mauer, und darunter zogen sich die Wiesen in einem so erstaunlichen, so frischen Grün, dass ihr Anblick ein völlig neues Gefühl hervorrief – ein kindliches Staunen, ein Aufatmen, das einer Erneuerung gleichkam. Und die größte Überraschung lag am Grund dieses weiten Tales: der See.
    Tsagaan-Nuur. Der Weiße See.
    Über der glasklaren Fläche ragten weiß und blau die Gipfel der Hor’dil-Sar’dag-Kette auf, während sich darunter im vollkommen reglosen Wasser dieselben Gipfel spiegelten, als verneigten sie sich vor ihren Vorbildern, und übertrafen sie doch an Reinheit und Erhabenheit. Es war ein Bild völligen Friedens.
    Der Zug hielt an, geblendet von so viel Schönheit. Nur das Klirren von Steigbügeln und der raue Atem der Rentiere war zu hören. Diane musste sich anstrengen, um nicht von ihrem Reittier zu rutschen. Sie schob den Daumen unter ein Brillenglas, um das Kondenswasser abzuwischen, das ihr die Sicht nahm.
    Aber es gelang ihr nicht. Denn die Tropfen kamen von den Tränen, die unter ihren gefrorenen Wimpern hervorquollen.
     
     
     
KAPITEL 59
     
    An dem Abend schlugen sie am Seeufer ihr Lager auf. Unter den Fichtenzweigen errichteten sie die Zelte, und trotz der Kälte aßen sie im Freien. Nach einem Gebet an die Geister bereiteten die beiden Mongolen ihr traditionelles Mahl zu: gekochter Hammel und Tee mit Tierfett. Diane hätte nie gedacht, dass sie sich je zu solchen Gerichten überreden ließe, aber an diesem Abend kauerte sie sich wie schon tags zuvor neben das Feuer und verschlang wortlos ihre Portion.
    Der Himmel über ihnen war vollkommen klar. Schon oft hatte Diane den nächtlichen Himmel bestaunt, vor allem in der afrikanischen Wüste, doch sie erinnerte sich nicht, ihn je so rein und so nah gesehen zu haben. Die Milchstraße entfaltete ihre Myriaden von Sternen in einer Sarabande ohne Anfang und Ende. Manche Sternenhaufen waren so intensiv, dass sie zu gleißenden Feuern anschwollen, andere hingegen zerfielen zu perlmuttfarbenen Nebeln, und bei wieder anderen lösten sich die äußeren Ränder der Ansammlung in ein zartes Flimmern auf, als könnten sie jederzeit in die Grenzenlosigkeit des Alls entweichen.
    Als Diane den Blick wieder senkte, merkte sie, dass ihre beiden Führer, die einige Meter entfernt saßen, mit einem Neuankömmling diskutierten, der in der Dunkelheit nur als schemenhafte Gestalt zu erkennen war. Vermutlich ein einsamer Viehhirte, der das Feuer gesehen und zu ihnen gestoßen war, um an der Mahlzeit teilzunehmen. Sie spitzte die Ohren. Zum ersten Mal lauschte sie der mongolischen Sprache bewusst, dieser Aufeinanderfolge rauer Silben, die aus sonderbar spanisch klingenden Kehllauten und auf- und

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