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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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des Tokarnak geführt hatte, sei eine Folge der Experimente über die Grenzzustände des menschlichen Bewusstseins gewesen. Nun erwies sich, dass die Tragödie in Wahrheit mit dem Reaktor zu tun hatte. »Gab es Opfer?«, fragte sie atemlos.
    Giovanni gab ihre Frage weiter und lauschte der Antwort.
    »Er spricht von hundertfünfzig Toten, mindestens. Er sagt, als die Maschine explodiert ist, waren sämtliche Arbeiter im Ring anwesend. Sie führten wohl irgendwelche Wartungsarbeiten durch, ich hab das nicht so genau verstanden. Anscheinend ist das Plasma aus der Kammer ausgetreten und hat sie bei lebendigem Leib verbrannt.«
    Gambochüü wiederholte jetzt immer wieder ein Wort – ein Wort, das Diane erkannte. »Was redet er da von den Tsewenen?«, fragte sie.
    »Sämtliche Arbeiter waren Tsewenen. Die letzten aus der Gegend.«
    Sie hatten also beide Recht, Diane ebenso wie Giovanni. Die sowjetische Unterdrückung hatte das Nomadenvolk weitgehend vernichtet und die wenigen Überlebenden in die Seßhaftigkeit getrieben und in Kolchosen untergebracht: Sie waren Zwangsarbeiter geworden, verurteilt zum Tod im Reaktor.
    »Er sagt, es gab wohl ein paar Überlebende«, fuhr der Ethnologe unterdessen fort. »Ihnen hingen die Eingeweide heraus, und die Frauen erkannten ihre Männer nicht wieder und weigerten sich, sie zu versorgen. Er sagt, die Sterbenden brüllten trotz ihrer grausamen Verletzungen, weil sie umkamen vor Durst. Er sagt, als sie tot waren, zerbrachen ihre Kiefer wie Glas. Und es saßen so viele Fliegen auf den Leichen, dass man nicht wusste, ob die Körper schwarz verbrannt oder schwarz von Insekten waren …«
    Diane dachte an die anderen Überlebenden – jene, die geglaubt hatten, sie seien dem Verbrennen entronnen. Die Konsequenzen von radioaktivem Tritium kannte sie nicht; aber sie wusste, welche Schäden Uranium anrichtet. In den Wochen nach dem Abwurf der Atombombe hatten die Überlebenden von Hiroshima erfahren, dass der Begriff des Überlebens gegenstandslos geworden war. Zuerst fielen ihnen die Haare aus, dann folgten Durchfall und Erbrechen, innere Blutungen traten auf, und schließlich manifestierten sich die unheilbaren Krankheiten: Leukämie, Tumore, Krebs an allen Organen … Die tsewenischen Arbeiter hatten zweifellos dieselben Qualen erlitten. Ganz zu schweigen von ihren Angehörigen, ihren Frauen – jenen, die Monate nach der Explosion Missgeburten zur Welt gebracht hatten, und anderen, die nie mehr schwanger geworden waren, weil die massive Strahlendosis ihre Keimzellen zerstört hatte.
    Diane starrte zum Himmel hinauf. Sie weigerte sich, Mitgefühl aufkommen zu lassen. Sie durfte sich keine Sentimentalität erlauben, sondern musste bei klarem Verstand bleiben und versuchen, die richtigen Schlüsse aus diesen Erkenntnissen zu ziehen. Jewgenij Talich kam ihr in den Sinn: Indirekt hatte der Physiker mit seiner Kernforschung Unglück und Tod über sein eigenes Volk gebracht. Der geniale Wissenschaftler, der große Held der Tsewenen hatte die Auslöschung seines eigenen Volkes heraufbeschworen …
    Dann kam ihr eine andere Idee. Angenommen, Jewgenij Talich war nicht direkt an der fatalen Explosion beteiligt, angenommen, der Unfall war nicht seine Schuld: Lag hier nicht ein unabweisliches Motiv zur Rache vor? Was, wenn aus irgendeinem noch unbekannten Grund die Forscher des Labors für Parapsychologie die Verursacher des Unglücks waren? War es nicht denkbar, dass sich Talich, der friedliebende Dissident, in einen grausamen Killer verwandelt hatte, als er erfuhr, dass die Forscher sich anschickten, an den Ort ihres Verbrechens zurückzukehren?
     

 
     
KAPITEL 60
     
    Diane erwachte beim ersten Tageslicht. Sie kleidete sich an, schlüpfte in eine wasserdichte Überhose und ihren Parka, darüber zog sie einen Regenumhang. Sie packte ihren Rucksack: Halogentaschenlampe, Seile, Karabinerhaken, Ersatzbatterien. Sie besaß keine Waffe, nicht einmal ein Messer. Einen kurzen Moment dachte sie daran, den Mongolen, die im Zelt nebenan schliefen, ein Gewehr zu entwenden, doch sie verwarf den Gedanken wieder: zu riskant. Sie schloss den Rucksack und kroch in die Morgenröte hinaus.
    Alles war mit Reif überzogen. Das Gras strahlte weiß, hier und dort leuchtete eine bläuliche Pfütze. Tautropfen funkelten in erstarrter Pracht, an den Fichtennadeln und Zweigen hingen winzige, durchsichtige Stalaktiten, und all das Glitzern und Gleißen schien noch in Bewegung durch die Dunstschwaden, die es umwaberten,

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