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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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absteigenden Vokalen bestanden. Der Neuankömmling reckte den Arm zum Himmel.
    »Giovanni?«
    Der Italiener, der sich in seinen Anorak gekuschelt am Feuer wärmte, klappte den Schirm seiner Mütze hoch.
    »Wissen Sie, wer das ist?«, fragte sie.
    Er steckte die Hände wieder in die Taschen. »Jemand aus der Gegend, nehme ich an. Er hat einen absurden Akzent.«
    »Verstehen Sie, was er sagt?«
    »Er erzählt alte Legenden. Tsewenische Geschichten.«
    Diane fuhr auf. »Glauben Sie, er ist selber einer?«
    »Sie sind aber stur! Ich sag’s Ihnen noch einmal: Das Volk existiert nicht mehr!«
    »Aber wenn er doch tsewenische Geschichten …«
    »Das gehört zur Folklore der Gegend. Auf dieser Seite des Passes sind wir auf dem Gebiet der Turkvölker. Hier hat jeder ein bisschen Tsewenenblut in den Adern. Zumindest kennt jeder die alten Geschichten. Das bedeutet nichts.«
    »Sie könnten ihn aber fragen, oder?«
    Der Italiener seufzte und rappelte sich auf. Zuerst stellte man sich einander vor. Der Fremde hieß Gambochüü. Sein Gesicht glich einer alten Maske aus zerknitterter Haut und Einkerbungen, die im Sternenlicht beunruhigende Schatten bargen.
    Der Ethnologe übersetzte seine Antworten: »Er sagt, er ist Mongole. Er ist Fischer am Weißen See.«
    »Hat er schon hier gelebt, als der Tokamak noch in Betrieb war?«
    Giovanni gab die Frage weiter und wartete die Antwort ab, dann sagte er: »Er ist hier geboren. Er erinnert sich genau an den Ring.«
    Diane spürte ein neues Prickeln unter der Haut: Zum ersten Mal stand sie einem Menschen gegenüber, der den steinernen Ring noch in Betrieb erlebt hatte. Sie fragte weiter: »Was weiß er über die Aktivitäten des Tokamak?«
    »Also wirklich, Diane, er ist ein Fischer, er kann doch nicht …«
    »Fragen Sie ihn!«
    Giovanni gehorchte. Der eisige Wind fuhr in die Fichtenzweige und setzte einen intensiven, schweren Harzgeruch frei, der sich in der Kehle festsetzte wie der Rauch eines Feuers. Diane fühlte sich eingekreist, durchdrungen von der Textur der Taiga. Der alte Mongole schüttelte den Kopf und murmelte etwas.
    »Er will nicht darüber reden«, erklärte der Italiener. »Der Ort war verflucht, sagt er.«
    »Warum war er verflucht?« Diane hob die Stimme. »Bestehen Sie drauf: Es ist sehr wichtig für mich!«
    Der Ethnologe musterte sie misstrauisch. In ruhigerem Ton setzte Diane hinzu: »Giovanni, bitte.«
    Der Italiener setzte sein Zwiegespräch mit dem Fischer fort. Der zog unterdessen eine Pfeife hervor, die aussah wie ein gebogener Metallschlüssel, und stopfte sie geduldig; und als er schließlich den Tabak in dem winzigen Pfeifenkopf in Brand gesetzt hatte, war er bereit zu sprechen.
    Giovanni lauschte eine ganze Weile; dann gab er Diane seine Rede wieder: »Er meint vor allem das Labor für Parapsychologie.
    Er erinnert sich an Konvois, die auf Schienen hier ankamen, von der sibirischen Grenze her. Schamanen waren es, und sie wurden in einem der zugehörigen Gebäude untergebracht. Alle redeten davon. In den Augen der Arbeiter konnte es keine größere Schändung geben. Medizinmänner einsperren heißt, die Geister herausfordern.«
    »Fragen Sie ihn, ob er weiß, was in diesem Labor vor sich gegangen ist.«
    Giovanni stellte die Frage, doch der Besucher rührte sich nicht mehr. Sein glühender Pfeifenkopf strahlte bald hell, bald dunkler, wie ein ferner Leuchtturm.
    »Er will nicht mehr antworten«, sagte Giovanni. »Er sagt immer nur, dass der Ort verflucht ist.«
    »Wegen der Experimente?«
    Diane hatte beinahe geschrien. Eine Stille trat ein, in der nur das Feuer knisterte und knackte. Dann begann die alte, heisere Stimme wieder zu sprechen.
    »Er sagt, dass Blut geflossen ist«, erklärte Giovanni. »Dass die Wissenschaftler wahnsinnig waren, dass sie schreckliche Experimente durchgeführt haben. Mehr weiß er nicht. Es ist Blut geflossen: Deswegen haben die Geister sich gerächt.«
    »Wie haben sie sich gerächt?«
    Gambochüü schien jetzt unerwartet doch gewillt, sein Wissen preiszugeben, und redete drauflos, als wollte er sich etwas von der Seele reden – ohne auf Giovanni zu warten, der kaum noch mitkam und nur noch zusammenfassen konnte: »Sie haben den Unfall heraufbeschworen«, sagte er. »Im Frühjahr 1972 ist der steinerne Ring explodiert. Ein Blitz ist hindurchgefahren.«
    Diane fühlte sich selbst wie vom Blitz getroffen. Die ganze Zeit hatte sie nur an das parapsychologische Versuchslabor gedacht und geglaubt, das Drama, das zur Schließung

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