Der steinerne Kreis
zehn Jahren beschäftigte sie sich mit den Raubtieren, analysierte ihre Verhaltensweisen, beobachtete ihre Reaktion, und hinter all ihren Forschungen stand immer nur ein Ziel: die Gewalt der Tiere zu begreifen und vielleicht ihre geheime Grundlage aufzudecken.
Diese schamanistischen Traditionen waren nicht weit entfernt von ihren eigenen Anliegen. Und der Gedanke eines gnadenlosen Zweikampfs zwischen Tiermenschen faszinierte sie. Nach dem »Unfall« ihrer Jugend hatte sie selbst sich häufig genug in den Geist der Angreifer geflüchtet, um weiterleben zu können.
Sie öffnete die Augen wieder und betrachtete im dämmrigen Licht der Maschine die Passagiere mit den hellbunten deels , die schillernden Tücher der Frauen, und hatte das merkwürdige Gefühl, als sei auch sie auf dem Weg zu einer Verabredung in der tiefsten Taiga.
Zu einer Verabredung mit sich selbst.
KAPITEL 57
Am Spätnachmittag, als sie an Bord des zweiten Flugzeugs saßen – eines winzigen Doppeldeckers, der durch Wind und Wolken taumelte –, überzog sich die Steppe mit gewaltigen, endlosen Wäldern. Es erhoben sich Hügel mit rotgoldenen Hängen, Lichtungen rissen dunkle Abgründe auf, und die Erde blitzte und funkelte von hundertfachen Gewässern. Sie näherten sich der nördlichen Landesgrenze. Den Toren Sibiriens.
Doch statt beim Anblick von so viel Schönheit einen neuen Energieschub zu verspüren, wurde Diane von Müdigkeit überwältigt. Giovanni hingegen geriet angesichts der Landschaft in helle Begeisterung. »Die Seenregion, die mongolische Schweiz!«, rief er und konnte den Blick nicht vom Fenster wenden. Nach einer Weile holte er eine Landkarte hervor, zog sich in den hinteren Bereich der Kabine zurück und gab lautstark seine Kommentare ab, brüllend, um den Lärm der Propeller zu übertönen: »Das wird eine unglaubliche Reise! Wir sind Pioniere, Diane!«
Achtzehn Uhr. Landung in der Ebene. Tsagaan-Nuur war eine Siedlung von etwa dreißig Blockhütten, Isbas aus Holz, in allen Pastelltönen gestrichen. Während die Passagiere auf dem Flug nach Mörön nicht das geringste Interesse an den europäischen Reisenden bekundet hatten, erregte jetzt vor allem Diane mit ihren langen blonden Haaren unter der Tschapka bei den Bewohnern von Tsagaan-Nuur schlagartig Aufmerksamkeit.
Während Giovanni mit einem alten Viehzüchter sprach, ging Diane auf den Pferch zu, in dem die Rentiere untergebracht waren. Lang, aber nicht sehr hoch, das Fell schwarz oder weiß überstäubt, ähnelten sie einer reduzierten Ausgabe von Hirschen und sahen aus wie eine kuriose Mischung aus Plüschtier und Steinfigur. Ihre Schönheit lag in dem Geweih, das alle Tiere trugen: aufwärts gebogen und an den Enden schaufelförmig ausgebreitet, umhüllt von grauem Samt, der zu dieser Zeit des Jahres zu zerfasern begann.
Giovanni kam zurück und erläuterte Diane das Ergebnis seiner Unterredung: Der Viehzüchter sei bereit, ihnen sechs oder sieben Tiere zu »vermieten«, allerdings unter der Bedingung, dass sie ihm zuvor ihre Fähigkeiten als Reiter vorführten. In seiner Ehre getroffen, bestand Giovanni darauf, sofort aufzusitzen. Beim dritten Sturz schien er das Gelächter der Mongolen, die in Scharen herbeigeströmt waren, um der Gratisvorstellung beizuwohnen, allmählich leid zu werden. Beim fünften überprüfte er seine Ausrüstung: Wieso war der Sattel nicht befestigt? Beim siebten bedachte er laut die Möglichkeit eines Fußmarsches. Endlich geruhte der Besitzer der Herde einige Hinweise zu geben. Das Fell der Rentiere, erklärte er, sei extrem glatt, damit sich kein Material darin verfange – deshalb sei es auch unmöglich, Riemen an dem Tier zu befestigen. Vielmehr müsse man dem Geschirr freien Lauf lassen und sich an die Bewegung des Tieres anpassen – auf seinem Rücken locker mitschwingen und das Tier am Hals lenken. Er ließ den Worten die Tat folgen, saß auf und ritt einmal rund um das Gehege.
Diane und Giovanni begannen also mit der Ausbildung. Es gab weitere Stürze, weiteres Gelächter. Nass und schlammverkrustet, ließen sich die beiden Reisenden von der fröhlichen Atmosphäre in der Dorfgemeinschaft mitreißen. Diane brauchte keine Steigbügel, sie war so groß, dass sie ihr Reitpferd einfach zwischen die Beine nehmen und die Füße auf den Boden stellen konnte. Beim Publikum erregte diese Maßlosigkeit größte Heiterkeit. In der überbordenden Ausgelassenheit ringsum waren sich die beiden Reisegefährten in ihrer Stimmung
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