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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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der Menge. Sie war in einem Zustand der Erregung, der an Hysterie grenzte. Sie hatte keine Minute geschlafen und empfand doch keine Müdigkeit. Sie spürte nicht einmal Schmerzen nach dem Kampf auf dem Dach – es war, als wäre die Gewalt der vergangenen Nacht durch sie hindurchgegangen, ohne irgendeine sichtbare Spur zu hinterlassen, abgesehen von dieser unbezwingbaren Nervosität, die wie ein inneres Beben war.
    Trotz des Mordes, trotz der Geheimnisse des Klosters, trotz des Umstands, dass ihm Diane offensichtlich weniger als zehn Prozent der Wahrheit mitgeteilt hatte, war Giovanni fest entschlossen, sie nicht allein zu lassen – er wollte die Reise bis an die sibirische Grenze zu Ende bringen. Von der Polizei entlassen, hatten die beiden Komplizen ihre Sachen gepackt, heißen Tee getrunken und waren zum Flughafen aufgebrochen, um die Maschine zu erreichen, die einmal wöchentlich nach Mörön ging, einer kleinen Siedlung fünfhundert Kilometer nordwestlich der Hauptstadt.
    Mehr als eine Stunde war das Flugzeug schon unterwegs. Die Triebwerke röhrten markerschütternd und ließen sämtliche Gliedmaßen ertauben. Sogar die Schafe standen starr wie Statuen und rührten sich nicht mehr. Nur Diane konnte sich nicht still halten, stand häufig auf, ließ sich wieder zwischen Säcken und Passagieren nieder und versuchte, Ruhe zu finden, indem sie die Männer und Frauen um sich herum beobachtete.
    Die Physiognomien waren hier schon wieder anders als in Ulan Bator. Die Männer hatten dunkel gegerbte, tief gefurchte Gesichter, die Frauen und Kinder hingegen eine makellose, beinahe durchscheinende Haut. Diane bewunderte die strahlenden Farben der deels , die in allen Abstufungen von Blau, Grün, Gelb, in ungetrübtem Weiß und Knallrot, in Orange, Rosa und Violett leuchteten …
    Sie beugte sich zu Giovanni, deutete auf einen kleinen Jungen in der Nähe, der schlafend auf einem eingebrochenen Karton lag, und fragte: »Können Sie herausfinden, wie er heißt?«
    Der Italiener wandte sich an die Mutter, lauschte ihrer Antwort, dann übersetzte er: »Choserdene: zweifaches Juwel. In der Mongolei hat jeder Vorname eine Bedeutung.«
    »Und er?«, fragte sie weiter und deutete auf einen kleineren Jungen, der sich in die Arme einer Frau mit indigoblauem Turban schmiegte.
    »Märzsonne«, übersetzte Giovanni.
    »Und er?«
    »Eisenpanzer.«
    Diane stellte das Fragespiel ein und wandte sich nun den Tüchern der Frauen zu, in die sie ihre schwarzen Haare eingebunden hatten. Sie waren mit bunten Motiven bedruckt, darunter auch Tiere – Rentiere zwischen Bäumen, Adler, deren Flügel in goldenen Litzen endeten, Bären, deren Tatzen sich zu braunen Fransen verzweigten. Als sie genauer hinsah, erkannte sie noch etwas: Unter der schimmernden Seide wurden die Bäume, Flügel, Tatzen zu menschlichen Armen, Gestalten, Gesichtern … Tatsächlich ließ sich jedes Muster auf zweierlei Art betrachten: ein janusköpfiges Geheimnis, Komplize des Lichteinfalls. Diane ahnte, dass dieser optische Effekt gewollt war – und seine Bedeutung hatte.
    »In der Taiga«, erklärte Giovanni, »identifiziert sich der Mensch mit dem Tier. Um im Wald zu überleben, lässt sich der Jäger von der Fauna leiten und legt sich am Vorbild der Tiere seine eigenen Methoden der Anpassung zurecht. Das Tier ist Beute und Modell zugleich. Ein Feind und ein Komplize.«
    Der Italiener musste fast schreien, um den Flugzeuglärm zu übertönen.
    »Bei den Schamanen reicht diese Verbundenheit noch weiter. Nach der traditionellen Überzeugung sind Schamanen in der Lage, sich tatsächlich in Tiere zu verwandeln. Wenn sie sich mit den Geistern in Verbindung setzen müssen, gehen sie in den Wald, lassen die Gewohnheiten der Menschen hinter sich – zum Beispiel essen sie kein gegartes Fleisch mehr – und nehmen schließlich die letzte Verwandlung vor, um ins Reich der Geister einzutreten.«
    Er schwieg kurz, um wieder zu Atem zu kommen, dann näherte er sich Dianes Ohr, als wollte er ihr ein Geheimnis anvertrauen. »Sehr bekannt ist ein Brauch der Tsewenen: Als es dieses Volk noch gab, mussten sich die Schamanen jeder Sippe an die geheimen Orte begeben und in der Gestalt ihrer Fetischtiere miteinander kämpfen. Diese Wettkämpfe versetzten das Volk der Tsewenen in Angst und Schrecken, weil dabei sehr viel auf dem Spiel stand.«
    »Was denn?«
    »Der siegreiche Schamane eignete sich die Kräfte des Besiegten an und nahm sie in seine Sippe mit.«
    Diane schloss die Augen. Seit

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