Der steinerne Kreis
umschmeichelten, ihm eine geradezu materielle Dichte verliehen.
In der Ferne erriet sie die Gegenwart der Rentiere, hörte ihre Hufe, die knisternd durch dünne Eisdecken brachen, ihren schweren Atem, der warme Löcher in die starre Eiswelt ringsum schmolz, und stellte sich die Tiere vor, grau und nahezu unsichtbar im morgendlichen Dunst, wie sie zwischen den Steinen nach Salz leckten und nach Flechten, Moosen, Baumrinde suchten. Noch weiter entfernt vernahm sie das regelmäßige Plätschern des Sees. Sie atmete die kalte Luft ein und ließ den Blick über das Lager schweifen. Nirgends eine Bewegung, nirgends ein Laut: Alles schlief. Sie machte sich auf den Weg durchs Unterholz, bemüht, die kristallenen Zweige der Büsche nicht abzubrechen. Hundert Meter weiter musste sie stehen bleiben, um sich zu erleichtern, und verfluchte sich innerlich, dass sie nicht früher auf die Idee gekommen war, ehe sie sich derart eingemummt hatte.
Hinter einem Baum schälte sie sich mühsam aus ihrer Überhose und kauerte sich nieder. Die Rentiere witterten das Salz im Urin, setzten sich augenblicklich in Marsch und brachen mit großem Getöse durchs Geäst. Diane hatte gerade noch Zeit, sich wieder anzuziehen und schleunigst aus dem Staub zu machen. In einigem Abstand wurde sie langsamer und brach in ein Gelächter aus, das nervös, verkrampft, lautlos war, aber sehr erleichternd. Sie hakte die Daumen in die Schulterriemen des Rucksacks und ging weiter. Am Seeufer angelangt, blieb sie stehen und musterte die Kuppe zu ihrer Rechten, hinter der sich, wie sie von den Mongolen wusste, der Tokamak befand, nicht mehr als zwei Kilometer entfernt. Sie betrat den Lärchenhain und begann mit dem Aufstieg.
Bald war sie schweißüberströmt, und das Atmen wurde schmerzhaft. Von ihrem Regenumhang perlte der Nebel in Tröpfchen wie kleine Edelsteine. Sie bemerkte dunkle Stellen im Gras, wo der Boden frei von Reif war, und trat näher. Es waren die Schlafstellen von Hirschen oder Rentieren, noch warm von ihren Leibern. Diane zog einen Handschuh aus und fuhr mit bloßen Fingern darüber hin. Dann fiel ihr Blick auf die braunen Wurzeln unter ihren Füßen, und sie berührte auch sie und genoss es, die unebene, glitschig feuchte Struktur zu spüren.
Sie stieg weiter. Erst jetzt rief sie sich die Worte von Gambochüü wieder in Erinnerung, die Beschreibung der nuklearen Katastrophe und die Qualen der Opfer, und sie fühlte sich in ihrer Annahme bestätigt. Aus irgendeinem Grund, den sie nicht kannte, waren die Parapsychologen für das Reaktorunglück verantwortlich. Oder mitverantwortlich – jedenfalls auf irgendeine Weise an dem Unfall beteiligt. In ihrer Erinnerung stiegen auf einmal verschiedene Bilder auf – die von schwarzbraunen Flecken übersäte Haut von Hugo Jochum, die schuppige, rosarote Epidermis von Philippe Thomas, dessen Ekzem regelrechte Häutungen hervorrief. Und aus einem abgelegenen Winkel ihres Gedächtnisses tauchte auch das merkwürdige Leiden von Rolf van Kaen auf, diese Magenatrophie, deretwegen er sich von zermalmten roten Früchten ernährte …
Wieso hatte sie nicht schon am Abend zuvor daran gedacht?
Natürlich waren auch die Parapsychologen verstrahlt worden.
Sie alle waren in der einen oder anderen Weise gezeichnet von der freigesetzten Radioaktivität – die sie offensichtlich aus größerem Abstand mitbekommen hatten, sodass die Strahlen für sie nicht tödlich gewesen waren. Strahlenschäden konnten sich auch nach Jahrzehnten manifestieren und in Gestalt von Verwachsungen oder Krankheiten auftreten. Dass diese Spätfolgen so sonderbar waren, ließ sich vielleicht mit der Neuheit des Ereignisses erklären: Bislang war niemand einer Tritiumbestrahlung ausgesetzt gewesen.
Diane spann ihre Hypothese weiter: War es nicht denkbar, dass die Explosion nicht nur in den körperlichen Stoff’ Wechsel eingegriffen, sondern auch in ihrem Denken etwas verändert – oder durch Änderung des Stoffwechsels die Funktionsweise des Gehirns beeinflusst hatte? Konnte die atomare Strahlung vielleicht die gegebene Leistungsfähigkeit eines Bewusstseins so sehr erweitern … dass paranormale Fähigkeiten entstanden?
In einem Fall wie diesem fiel es schwer, an Zufall zu glauben. War die Vorstellung also abwegig, dass sich die Forscher absichtlich einer Strahlung ausgesetzt hatten? Dass sie parallel zu ihren eigenen Erfahrungen Anzeichen bei den tsewenischen Arbeitern entdeckt hatten, die geistige Veränderungen aufgrund der
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