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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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dröhnen wie vom Echo eines gewaltigen Entsetzens. Jewgenij Talich, der berühmte Leiter des Tokamak, war hier ebenfalls inhaftiert gewesen. Er hatte die Leiden der Schamanen geteilt!
    Sie versuchte eine Erklärung dafür zu finden und stellte fest, dass diese neue Erkenntnis mehr Probleme löste als aufwarf: Wenn der TK 17 tatsächlich Schauplatz menschenverachtender Experimente mit Schamanen gewesen war, hatte sich Jewgenij Talich solchen Praktiken sicherlich in den Weg gestellt; sicher hatte er sich aufgelehnt und den Folterknechten gedroht, sie den Instanzen der Partei zu melden. Woraufhin sich das Blatt gewendet und die Parapsychologen, die zweifellos mit den Befehlshabern der hier stationierten Armee-Einheit verbündet waren, den Physiker unter irgendeinem Vorwand, wahrscheinlich staatsfeindlicher Umtriebe, inhaftiert hatten. Ein Tsewene blieb schließlich ein Tsewene. Und die russischen Soldaten hatten sicher mit Genuss den Stolz des kleinen Asiaten gebrochen. Diane fuhr mit den Fingern über die Inschrift und meinte in den Einkerbungen noch den Zorn des Forschers zu spüren. Obwohl sie nicht in der Lage war, das Gekrakel zu entziffern, war sie sicher, dass das Datum vom Zeitpunkt der Explosion nicht weit entfernt war: Frühjahr 1972.
    So hatte sie also richtig vermutet: Als sich der »Unfall« ereignet hatte, war Talich nicht länger Leiter des Tokamak, sondern saß im Gefängnis wie ein einfacher politischer Gefangener.
    Diane stieg die Stufen wieder hinauf und ging aufs Geratewohl weiter. Sie war noch wie vor den Kopf geschlagen von ihrer Entdeckung und brauchte eine Weile, bis sie bemerkte, dass die Räume größer und höher wurden: Die Türstöcke hoben sich, die Zimmerdecken schwebten nach oben, die Säle wurden weiter. Sie näherte sich dem Tokamak.
    Endlich gelangte sie zu einer verbleiten Tür mit Stahleinfassung, die mittels eines Rads zu öffnen war wie die Schleusenkammer eines U-Bootes. Darüber war ein inzwischen verblasstes rotes Zeichen gemalt: die Propellerschraube aus drei Dreiecken, die in allen Ländern der Welt vor radioaktivem Material warnt.
    Diane klemmte sich die Taschenlampe zwischen die Zähne, packte mit beiden Händen das Rad und stemmte sich mit aller Kraft dagegen, bis es ein wenig nachgab. Sie kurbelte weiter, bis die Tür entriegelt war, dann zog sie das Rad zu sich, am ganzen Körper angespannt, und zerriss dabei die Flechten und Moose, die sich in den Ritzen festgesetzt hatten. Abrupt gab die Wand nach und glitt dann über eine halbkreisförmige Schiene zur Seite. Diane bemerkte staunend, dass die Dicke der Wand, die zur Hälfte aus Beton und zur anderen aus Blei bestand, mindestens einen Meter betrug.
    Sie trat über die Schwelle und erschrak: Der Flur war beleuchtet. Neonröhren verbreiteten ein grelles weißes Licht. Wieso gab es hier Strom? Sie dachte an die übrigen Mitarbeiter des Tokamak: Waren sie schon da, waren sie bereits in die Kammer vorgedrungen? Aber sie konnte jetzt nicht aufgeben – nicht so nahe am Ziel.
    Vorsichtig betrat sie den steinernen Ring.
     
     
     
KAPITEL 62
     
    Diane befand sich in einem ringförmigen Korridor, der etwa fünfzehn Meter breit war. In der Mitte stand – als Ring im Ring – eine zylindrische Röhre, die Wände verdeckt von einem Konglomerat aus Kabeln, Leitungen, magnetischen Spulen. Darunter verliefen magnetische Bogen, wie ein stählerner Schutzschild für diese sonderbare Pipeline. Hier stand offenbar alles im Zeichen des Kreises, des Bogens, der Krümmung …
    Sie trat näher. Das Kabelgewirr hing herab wie Lianen. Die rundum laufenden kupfernen Spulen griffen in regelmäßigen Abständen ineinander und leuchteten in einem Altrosa, das Diane einen metallenen Nachgeschmack im Mund verursachte. Verstrebungen aus schwarzem Metall stützten das gesamte Gefüge. Diane stand nur ein paar Schritte von der Röhre entfernt. Hinter den komplizierten Apparaturen und Schaltungen erkannte sie den glatten schwarzen Stahlmantel, die Vakuumkammer, in der einst das Plasma auf die Fusionstemperatur der Sterne aufgeheizt worden war.
    Vorsichtig ging sie weiter, sorgfältig darauf bedacht, nicht auf den Schutt auf dem Fußboden zu treten und überhaupt kein Geräusch zu verursachen. Nie in ihrem Leben hatte sie sich so winzig, so kläglich gefühlt. Diese Maschine gehörte einer anderen Dimension, einer anderen Logik an, und Diane empfand eine dumpfe Beklommenheit beim Anblick dieses Bauwerks, das ein Erzeugnis des menschlichen Größenwahns

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