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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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war – hervorgegangen aus dem Willen, sich über die irdischen Gesetze hinwegzusetzen und die Materie in ihrer innersten Struktur zu verwandeln. Kamil hatte von Prometheus, dem Feuerdieb, gesprochen, Gambochüü von den Geistern, die sich an den Menschen gerächt und sie für ihre Verwegenheit bestraft hatten. Was immer sich hier abgespielt hatte – Diane begriff, dass der Tokamak der Schauplatz einer Entweihung, einer Auflehnung gegen höhere Mächte gewesen war.
    Minutenlang folgte sie der Krümmung des Korridors, dann machte sie kehrt. Es gab hier nichts zu entdecken – dieser technologische Wahn lieferte nicht den geringsten Hinweis … In diesem Augenblick brach ein grauenhaftes Gellen los, ein Lärm wie ein metallisches Kreischen.
    Sie hielt sich die Ohren zu, aber es half nichts, das Kreischen wiederholte sich nur umso lauter. Es war ein schrilles Pfeifen, markerschütternd und unerträglich. In ihrem Schockzustand begriff Diane erst nach einer Weile, dass der Lärm nicht von einer menschlichen Stimme verursacht wurde, sondern ein Alarmsignal war: Der Tokamak war im Begriff, den Betrieb wiederaufzunehmen.
    Zur unheilvollen Bestätigung ihrer Vermutung schlug an der Wand zu ihrer Rechten mit einem lauten Schlag eine Bleitür zu und wurde verriegelt. Diane sah, wie das Rad sich drehte und über der Tür eine rote Lampe aufleuchtete, und dann hatte sie den Eindruck, dass der gesamte Ring wieder zum Leben erwachte. Es war hier nicht anders als in allen Hochrisikoanlagen: Im Alarmfall besteht die erste Maßnahme darin, die Gefahrenzone abzuriegeln und sämtliche Ausgänge zu versperren – auch um den Preis von Menschenleben. So waren die Tsewenen bei lebendigem Leib verbrannt. So würde nun auch sie sterben.
    Diane dachte an die Schleuse, die sie offen gelassen hatte. Sie rannte, so schnell sie konnte, die Augen geblendet von den Blinklichtern, das Trommelfell betäubt vom Alarm. Alle Türen, die sie erreichte, schlugen im selben Moment zu. Konnte sie wirklich nicht schneller laufen, als dieser Sicherheitsmechanismus funktionierte?
    Auf einmal ertönte ein dumpfes Brummen, und der Fußboden begann zu vibrieren: Der Stromkreis schloß sich. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken: Kündigt das eine elektromagnetische Welle an? Ist noch Tritiumgas in der Vakuumkammer? Wie lange dauert es, bis aus den Gasatomen ein Plasma mit einer Temperatur von mehreren Millionen Grad wird? Noch immer rannte sie den Korridor entlang, das Herz schlug ihr bis zum Hals. Das Grollen verstärkte sich, das Vibrieren ließ die Wände, den Boden, die Kabel erzittern und schickte Wogen des Entsetzens durch Dianes Körper. Endlich erspähte sie die Tür, durch die sie hereingekommen war: Noch stand sie offen. Doch in diesem Moment setzte sich die Tür auf ihrer Gleitschiene in Bewegung. Diane sah, wie sich die schwarzen Rollen drehten, die Angeln sich seitwärts schoben und die Tür aus Bleibeton sich langsam parallel zum Türstock ausrichtete.
    Mit einem übermenschlichen Sprung quetschte sich Diane im allerletzten Augenblick durch den Spalt, der Beton streifte ihre Rippen, und sie stolperte über die stählerne Türschwelle und fiel. Aber sie war in Sicherheit. Sie lehnte sich gegen die Wand, die sich geschlossen hatte. Außer Atem, mit blutleerem Kopf, schrie sie ihr Entsetzen hinaus, hämmerte mit Füßen und Fäusten auf den Boden und ließ ihrer Panik freien Lauf– einer Panik, die von weit her kam, ein Überrest all der Gefahren, denen sie hatte trotzen müssen.
    Die Erschütterung erreichte ihren Höhepunkt und brachte sie zum Verstummen. Die Tür erzitterte in ihrer Verankerung wie das Fell über einer Trommel. Mit verkrampften Muskeln und zusammengebissenen Zähnen krümmte sich Diane und drückte sich an die Wand, während sie spürte, wie der Boden sich ihr entgegenhob wie eine mächtige Welle. Es dauerte jedoch nur einen Augenblick, den Bruchteil einer Sekunde; dann trat wieder Ruhe ein – der ohrenbetäubende Sirenenton wurde leiser und verstummte endlich, der Boden war wieder stabil. Diane verharrte reglos, mit stierem Blick, zu Stein erstarrt.
    Langsam kehrten die Gedanken in ihren Kopf zurück. Aus der Tiefe ihres Bewusstseins sickerte eine Erkenntnis an die Oberfläche, wie ein fernes, sehr fernes Murmeln: Es war alles vorbei. Der Aktivitätsschub des Tokamak hatte nur ein paar Sekunden gedauert, dann hatten die Sicherheitsmechanismen, die aus einer anderen Zeit stammten, die zerstörerische Anwandlung gestoppt.

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