Der steinerne Kreis
Diane begriff, dass sie den Reaktor wie ein autonomes Wesen sah – wie ein Untier oder einen Vulkan. Doch die Wahrheit war eine andere: Es war eine menschliche Hand, die den Reaktor hochgefahren hatte. Wer? Und warum? Um sie, Diane, aus dem Weg zu schaffen? Sie war zu müde, um sich weitere Fragen zu stellen, zu erschöpft für weiteres Grübeln.
Mühsam rappelte sie sich auf. In dem Moment bemerkte sie, dass ihr Umhang auf der linken Seite geschmolzen war. Sie riß ihn herunter. Auch der Parka war schwarz versengt und aufgeschlitzt. Diane fuhr mit der Hand in die Spalte und tastete Wolle und Polyesterfasern. Ebenfalls versengt. Mit einer raschen Geste entblößte sie ihre Seite. Von der Leiste bis zur Achsel war die Haut verbrannt und warf Blasen. Es war eine ausgedehnte dunkelrote Wunde, die sich über ihren Körper hinzog und an die anatomischen Darstellungen der Körpermuskulatur erinnerte. Diane war fassungslos. Und das größte Entsetzen verursachte ihr das völlige Fehlen von Schmerz.
Sie bückte sich und musterte die Bleiwand an der Stelle, wo sie gesessen hatte, und sah, dass winzige Risse durch das Material liefen. Der winterliche Frost, die sommerliche Hitze hatten das Blei porös werden lassen, und durch diese Haarrisse war die radioaktive Strahlung ausgetreten und hatte sie bis ins innerste Mark getroffen. Entsetzt wich sie zurück. Sie hatte geglaubt, sie sei dem Tod entronnen. Ein Irrtum. Ein fataler Irrtum. Denn sie war nicht nur verbrannt: Sie war verstrahlt.
Und damit so gut wie tot.
KAPITEL 63
Über dem Tal ging die Sonne auf. Die grünen Ebenen, auf der einen Seite vom Bergwald, auf der anderen von den noch nebelverhangenen Gebirgsausläufern begrenzt, rüsteten zum Ansturm auf den Horizont. Etwa hundert Meter entfernt bemerkte Diane einen Punkt, der sich bewegte, und als sie die Augen zusammenkniff, erkannte sie die Gestalt Giovannis, der mit einem Gewehr über der Schulter auf sie zukam. Er watete durch die Gräser, die ihm bis über Knie reichten und ihn in langen, lasziven Wellen umschmeichelten.
»Was ist los?«, schrie er. »Ich habe ein Beben gespürt, und dann …«
Eine Bö trug den restlichen Satz davon. Diane wankte ihm entgegen. Die Verbrennung spürte sie noch immer nicht, doch die Windstöße, die ihr Gesicht peitschten, die Gräser, die ihr um die Beine strichen, die frischen Gerüche der Landschaft, die bis in ihre Seele vordrangen, die nahm sie sehr deutlich wahr.
»Sie hätten auf mich warten können«, knurrte der Italiener, als sie einander gegenüberstanden. »Was ist passiert?«
»Der Tokamak hat sich plötzlich in Betrieb gesetzt. Ich weiß nicht, was …«
»Und Sie?«, fragte er weiter. »Mit Ihnen scheint alles in Ordnung zu sein.«
Diane lächelte, um nicht schreien zu müssen. »Sie sind aber ein guter Beobachter«, sagte sie.
Sie fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und stellte fest, dass ganze Büschel darin hängen blieben. Die Strahlung machte sich bereits bemerkbar. Die Milliarden von Atomen, aus denen ihr Körper bestand, fielen bereits auseinander und lösten damit eine Kettenreaktion aus, die erst mit ihrer völligen Auflösung beendet wäre. Wie viel Zeit hatte sie noch? Ein paar Wochen? Ein paar Tage?
»Ich war in der Maschine, Giovanni«, murmelte sie. »Ich bin verstrahlt. Verstrahlt bis auf die Knochen.«
Der Ethnologe bemerkte endlich den schwarz versengten Schlitz in ihrem Parka. Mit zwei Fingern hob er den Stoff an und sah die rötliche Wunde – die Haut begann sich bereits in langen Fetzen zu lösen.
»Sie brauchen einen Arzt«, stammelte er. »Ich bringe Sie ins Krankenhaus, Diane. Bloß keine Panik jetzt.«
Sie hörte ihm gar nicht zu. Sie wollte sich weder in trügerischer Hoffnung wiegen noch in Verzweiflung versinken. Allein die Galgenfrist, die ihr noch blieb, interessierte sie. Sie musste lange genug leben, um die Dämonen zu entlarven und die Wahrheit ans Licht zu bringen – und um dafür zu sorgen, dass ihrem Adoptivsohn nichts mehr geschehen konnte.
»Ich bringe Sie ins Krankenhaus«, wiederholte der Italiener.
»Seien Sie still.«
»Ich sorge dafür, dass Sie ganz schnell nach Frankreich zurückgebracht und …«
»Jetzt seien Sie doch still.«
Giovanni verstummte.
»Hören Sie denn nichts?«, fragte Diane.
»Was?«
»Die Erde bebt.«
Ging der Tokamak schon wieder los? Sie stellte sich vor, wie das Tal unter der atomaren Explosion in Flammen aufging. Dann begriff sie, dass das Beben nicht vom
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