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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Reaktor herkam, sondern von der entgegengesetzten Seite des Tals. Sie richtete den Blick geradeaus auf den Raum zwischen der bewaldeten Kuppe und der Felswand, wo eine riesige Staubwolke den Horizont verhüllte.
    Dann sah sie, was es war. Wer es war.
    Sie erkannte sie auf der Stelle.
    Die Tsewenen.
    Nicht zehn.
    Nicht hundert.
    Sondern Tausende.
    Eine Myriade von Reitern vor und neben und hinter einer gewaltigen Herde von Rentieren, deren unzählige Rücken ein schimmerndes Gewoge unter dem Spiegel der Wolken war – ein unaufhörliches Schillern von felligen Rücken und Lichtreflexen.
    Ein endloser Strom quoll den Hang herab in die Ebene, breitete sich aus, strotzend vor Kraft, Energie und Schönheit. Von Farbe war keine Rede mehr: Die Reiter trugen ausschließlich schwarze deels , und die Tiere, die sich zwischen ihnen drängten, waren grau und weiß. Sie rannten dahin, rieben ihre gesprenkelten Flanken, ihre samtigen Mäuler aneinander – wie lebende Büsche, phantastische Korallengebilde, materialisierte Auswüchse von Wind und Leben.
    Diane wusste vor Verwunderung und Staunen nicht, wohin sie blicken sollte, so sehr entzückte und überwältigte sie der Anblick. Sie suchte einen Anhaltspunkt, an dem sie sich festhalten, auf den sie ihre Aufmerksamkeit heften konnte, und auf einmal war ihr klar, welchen Anblick sie mitnehmen wollte, wenn sie in diesem Augenblick sterben musste: die Frauen.
    Sie waren es, sie allein, die zu beiden Seiten der Herde ritten und die Tiere im Zaum hielten. Auf dem Rücken ihrer Pferde saßen sie, beide Füße fest in den Steigbügeln, und schrien mit erhitzten Wangen. Diane erkannte die Muster auf ihren Kopftüchern, die Symbole der magischen Verwandlungen darstellten, wie sie seit dem Flug mit dem Transporter wusste. Jetzt war es, als hätten diese gemalten Fabelwesen Gestalt angenommen, um die Erde aufzuwühlen und Schollen aus dem Boden zu reißen, sodass Krümel und Gras durch die Luft flogen. Sie sprengten vor und zurück, hin und her, Leib und Schenkel mit dem Pferd verwachsen, wie um von der Erde emporzuschnellen mit einem rasenden Satz, einem eleganten Sprung – einer explosiven Lebendigkeit, die bis zum Himmel hinaufstieg.
    Über den Lärm der zahllosen Hufe hinweg brüllte Giovanni: »Was ist denn das nun wieder? Die werden uns zertrampeln!«
    Diane, die ihre wirbelnden Haare festhielt, rief zurück: »Nein. Ich glaube … Ich glaube, sie kommen, um uns zu holen.«
    Und sie ging weiter durch die hohen Gräser auf die stürmende Horde zu, während die Linie der Rentiere, schneeweiß und aschgrau, im Galopp durch das Gewoge aus Gras und Gestrüpp näher rückte. Diane hielt nicht inne. Hinter den Reitern erkannte sie jetzt die Kinder, die auf hölzernen Sätteln kleinere Tiere ritten.
    Von Zeit zu Zeit erschienen ihre geröteten Gesichter im Dickicht der Zweige. Eingemummt thronten sie auf ihren gewitterfarbenen Reittieren, ungerührt wie kleine Prinzen.
    Als die Truppe nur noch hundert Meter entfernt war, erkannte Diane einen Mann an der Spitze. Er trug einen breiten schwarzen Hut, und seine Aufmachung war von einer Pracht, seine Haltung von einer Erhabenheit, die vermuten ließ, dass er den Zug anführte. Dabei war er noch sehr jung, beinahe noch ein Kind, und Diane war sich auf einmal sicher, dass dieser kindliche König ein Wächter war – ein zum Mann herangewachsener Wächter, von seinem Volk als Anführer verehrt. Sie dachte an Lucien. Vor ihrem geistigen Auge sah sie undeutlich chaotische Ereignisse vorüberziehen, sah gestohlene Kinder, Brandzeichen auf der Haut, Grenzüberschreitungen zwischen Leben und Tod, sah Mord und Folter … Letztlich war alles eins. Und es war ihr egal. Denn auf dem Grund dieses Strudels, jenseits dieses Volkes, das von den Toten auferstanden war, sah sie ein Licht aufleuchten.
    Wenn dieses Volk noch am Leben war, dann gab es vielleicht auch für sie eine Hoffnung …
    Wie eine Woge, die sich am Ufersand bricht, hielten sämtliche Tiere in ihrer Bewegung inne. Zwanzig Meter von Diane entfernt. Sie ging auf sie zu. Die ersten Rentiere reckten bereits den Hals und witterten das Salz auf ihren tränennassen Wangen. Wankend vor Erschöpfung fragte sich Diane, was sie sagen, in welcher Sprache sie reden sollte, um den Kontakt herzustellen.
    Das war jedoch überflüssig.
    Der jugendliche König wies ihr bereits ein gesatteltes Pferd zu, das sie aus großen, sanften Augen musterte.
     
     
     
KAPITEL 64
     
    Auf der Stelle machte der ganze

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