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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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ihr so schön erschienen wie jetzt.
    Sie trug ein weißes Après-Ski-Ensemble, entworfen von einem großen italienischen Modehaus. Nicht ein Schatten, nicht ein falscher Faltenwurf störte diese vollendete Acryl-Eleganz. Erst auf der Höhe des Gesichts entdeckte Diane die ersten Makel. Unter der roten Kappe wirkten die blonden Strähnen ihrer Mutter so farb- und leblos, dass sie beinahe weiß waren. Und ihre Augen, die stets so hell und strahlend blau gewesen waren, ähnelten jetzt zwei Eistümpeln. Diane hätte gern eine schlagfertige Bemerkung von sich gegeben, die der Situation angemessen war, doch in ihrer Überraschung fiel ihr nichts anderes ein als zu wiederholen: »Mama? Was machst du denn hier?«
    Lächelnd antwortete Sybille Thiberge: »Das ist die Geschichte meines Lebens, meine Liebe.«
    Diane sah, dass ihre Mutter wie die beiden anderen eine Schusswaffe in der Hand hielt, und erkannte das Modell: eine Glock – wie die Pistole, mit der sie in der Stiftung Bruner selbst geschossen hatte. Sie merkte, wie der Zorn in ihr aufstieg und ihr neue Kraft verlieh: »Erzähl«, befahl sie. »Du bist uns die Wahrheit schuldig.«
    »Bin ich das?«
    »Ja. Schon allein deshalb, weil wir bis hierher gekommen sind, um sie zu hören.«
    Ein Lächeln. Dieser Spalt im Gesicht, so glatt, so vertraut – ein Bild, das Diane seit ihrer Jugend verabscheute.
    »Nun gut«, räumte Sybille ein, »aber ich fürchte, das wird eine Weile dauern …«
    Diane ließ den Blick durch den Raum schweifen, über die Ketten, den Sarkophag, den Operationstisch. »Die Nacht gehört uns, oder?«, sagte sie. »Ich nehme an, euer Experiment fängt erst im Morgengrauen an.«
    Sybille nickte. Die beiden Slawen hatten sich unterdessen zu ihr gestellt. Es war so kalt, dass sich ihr Atem zu feinem Reif kristallisierte. Der Anblick dieser beiden Männer, die reglos ihre Mutter einrahmten, bot ein Bild von erschreckender Perfektion. Aber nicht das war es, was Diane in Bann schlug – sondern der Blick abgöttischer Verehrung, mit dem die Folterknechte Sybille Thiberge bedachten.
    »Ich glaube nicht, dass du mein Leben überhaupt begreifen kannst«, begann Sybille wieder. »Meine Beweggründe. Die treibende Kraft.«
    »Warum soll ich das nicht können?«
    Sybille warf einen zerstreuten Blick auf Giovanni, dann sah sie wieder ihrer Tochter in die Augen. »Weil du keine Ahnung hast, was das für eine Zeit war, damals. Was für ein Geist damals herrschte. Eure Generation ist nichts als ein toter Stollen, ein abgestorbener Schössling. Keine Träume, keine Hoffnungen, auch kein Bedauern. Nichts.«
    »Was weißt denn du darüber!«
    Die Mutter sprach weiter, ohne auf sie zu achten: »Ihr lebt im Zeitalter des goldenen Konsums, des totalen Materialismus und betreibt eine permanente Nabelschau, das ist das Einzige, was euch interessiert.« Sie seufzte. »Aber vielleicht ist euer Mangel an Fantasie das Pendel, das in die andere Richtung ausschlägt – unsere Flamme hat zu hell gelodert. Wir waren so begeistert, so leidenschaftlich, dass wir alles genommen haben …«
    Diane fühlte, wie sie die vertrauten Aggressionen überkamen. »Wovon redest du?«, fragte sie angriffslustig. »Welchen Traum hätten wir denn verpasst?«
    Eine kurze Pause trat ein, ein befremdetes Schweigen, als betrachtete die Mutter die abgründige Ignoranz der Tochter. Dann sprach sie, die Lippen gerundet zum Ausdruck tiefsten Respekts: »Die Revolution. Ich rede von der Revolution. Vom Ende der sozialen Ungleichheit. Von der Macht des Proletariats. Von der Rückgabe des Eigentums an diejenigen, die die Produktionsmittel kontrollieren. Vom Ende der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen!«
    Diane war bass erstaunt. Dann sollten den Schlussakkord in dem Alptraum diese fünf Silben bilden?
    Der Redefluss ihrer Mutter beschleunigte sich: »Ja, meine Liebe. Die Revolution. Es war keine Illusion. Es war ein großer Zorn, und es lag auf der Hand: Es war möglich, das System zu stürzen, das unsere Gesellschaft strukturierte und unser Denken entfremdete. Wir konnten den Menschen aus seinem sozialen und geistigen Gefängnis befreien. Eine Welt der Gerechtigkeit, der Großmut, der Aufklärung schaffen. Wer wagte zu behaupten, dass dieser Traum nicht der größte und großartigste der Menschheit war?«
    Diane konnte nicht glauben, dass es die Bourgeoisie vom Boulevard Suchet war, die hier sprach. Sie versuchte die Worte mit der Realität, die sie jahrelang erlebt hatte, in Einklang zu bringen.

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