Der steinerne Kreis
Talichs Protest und seine Verhaftung. Dann das Reaktorunglück, das vermutlich in Zusammenhang mit der Absetzung Talichs als Laborleiter stand. Dann die Rettung der verstrahlten Arbeiter durch ihre Brüder, wodurch das Geheimnis dieser Berge ans Licht gekommen war: die Existenz eines völlig reinen Volkes, dessen Medizinmänner und weise Frauen eine Macht besaßen, die sich jeder rationalen Erklärung entzog.
Sie verstummte, außer Atem. Mawriski nickte bedächtig, und sein elfenbeinernes Gesicht schimmerte im Licht. Mit anerkennender Miene kräuselte er die Lippen. »Meinen Glückwunsch«, sagte er. »Da haben Sie ja ganze Arbeit geleistet. Bis auf ein paar Einzelheiten ist die Sache mehr oder weniger so gelaufen.«
»Was für Einzelheiten?«
»Der Reaktorunfall. Er hatte eine andere Ursache. Gewiss, unsere Ingenieure sind bisweilen ein wenig leichtfertig, aber nie hätten sie eine Maschine wie diese aus Versehen in die Luft gesprengt. Selbst in der UdSSR waren die Sicherheitsmaßnahmen äußerst zuverlässig.«
»Wer war es dann?«
»Ich.« Er deutete auf Sacher. »Wir. Unsere Gruppe. Wir mussten uns dringend dieser tsewenischen Arbeiter entledigen.«
»Das … das haben Sie getan? Aber warum?«
Nun ergriff Sacher das Wort. In strengem Ton sagte er: »Sie haben keine Ahnung, welchen Platz Talich im Herzen dieser Leute einnahm. Er war ihr Herr und Gebieter. Ihr Gott. Als sie erfuhren, dass wir ihn verhaftet hatten, fingen sie sofort an, seine gewaltsame Befreiung zu planen. Wir konnten zu dem Zeitpunkt wahrhaftig keine Meuterei brauchen. Wie soll ich es Ihnen erklären – wir spürten die Gegenwart einer Kraft, hier, in diesem Labor. Wir ahnten, dass wir kurz vor einer überwältigenden Entdeckung standen. Wir mussten um jeden Preis unsere Forschungen fortführen …«
»Und da hatten Sie Angst vor ein paar unbewaffneten Arbeitern?«
Mawriski lächelte. »Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen«, sagte er. »Im Jahr 1960 rückte die sowjetische Armee bis zur mongolischen Grenze vor und zwang jedem hier ansässigen Volksstamm die Kollektivierung auf. Sie wissen es: Statt ihre Tiere auszuliefern, zogen die Tsewenen es vor, sie eigenhändig zu töten. Die sowjetischen Offiziere waren vom Donner gerührt, als sie eines Morgens in der Steppe Tausende ausgeweideter Rentiere vorfanden. Die Tsewenen hingegen waren verschwunden. Die Truppen suchten natürlich nach ihnen, aber ohne Erfolg, und schließlich gingen sie davon aus, dass das Volk in die Berge geflohen war. Mit anderen Worten: Es hatte freiwillig den Tod gewählt. Es war Winter, und um diese Jahreszeit hätte ohne Nahrung und ohne Vieh in der Tundra niemand überlebt. Die Soldaten zogen also wieder ab und nahmen an, dass die Berge den Tsewenen zum Grab würden. Irrtum. Die Nomaden sind nicht geflohen. Sie haben sich einfach nur versteckt, vor aller Augen.«
Dianes Herz klopfte schneller. »Wo?«, fragte sie.
»In den Rentieren. In den Kadavern der ausgeweideten Rentiere. Männer, Frauen, Kinder: Sie krochen in die Bäuche der Tiere und warteten ab, bis die Sowjets abzogen. Glauben Sie mir, bei einem Volk, das zu solchen Taten fähig ist, muss man mit allem rechnen.«
Jede neue Information fügte sich mit unerbittlicher Genauigkeit ins Bild. Diane dachte an die Technik der Morde: mit einem Arm in den Eingeweiden des Opfers. Es hing alles zusammen, alles war irgendwie verknüpft. Und dann dämmerte ihr eine weitere Wahrheit.
»1972!«, rief sie aus. »Damals haben Sie den Tokamak als Mordmaschine benutzt. Und gestern haben Sie’s wieder getan, um mich zu beseitigen!«
Der Russe nickte. »Es funktioniert ja noch alles. Ich musste nur das Wehr des Wasserfalls öffnen, um die Turbinen und Wechselstromgeneratoren in Gang zu bringen. Sobald der Strom da war, setzte ich die letzten Tritiumreste frei. Die Kammer stand immer noch unter Vakuum, die Erzeugung von Radioaktivität war also möglich. Erstaunlich.« Er lachte.
»Sie sind Mörder, alle beide!«
Diane warf einen kurzen Blick zu Giovanni hinüber. Er wirkte wie vor den Kopf geschlagen und war gleichzeitig völlig fasziniert. Sie wussten beide, dass sie sterben mussten. Und hatten doch nur eines im Sinn: die Fortsetzung der Geschichte zu erfahren.
Sacher erzählte weiter: »Am Morgen nach dem Unglück riegelten wir das verstrahlte Gebiet ab und nahmen unsere Experimente wieder auf. Und da geschah ein Wunder. Die Soldaten, die beauftragt waren, die Lagerhäuser zu bewachen, in denen die
Weitere Kostenlose Bücher