Der steinerne Kreis
Aber niemals hatte sie ihre Mutter vom Kommunismus reden hören, nicht einmal von Politik. Sie verzichtete darauf, nach einer Erklärung zu suchen – die Antwort würde schon noch kommen.
»1967 war ich einundzwanzig und studierte Psychologie an der Universität von Nanterre. Damals war ich noch eine Kleinbürgerin, aber ich erlebte meine Zeit mit Leib und Seele, mit absoluter Hingabe. Ich begeisterte mich für den Kommunismus und die experimentelle Psychologie, und mit derselben Leidenschaft wollte ich sowohl nach Moskau reisen, um den Sozialismus in der Praxis zu erleben, als auch in Amerika studieren, an der Universität Berkeley, wo Psychologen und Chemiker mithilfe von LSD und Meditation in die unerforschten Bereiche des Bewusstseins vordrangen.
Mein Held hieß Philippe Thomas. Er war nicht nur einer der namhaftesten Dozenten für Psychologie an der Universität, sondern auch eine herausragende Gestalt der kommunistischen Partei. Ich besuchte alle seine Vorlesungen und Seminare. Er schien mir großartig, unfassbar, unerreichbar …
Als ich hörte, dass er Teilnehmer für bestimmte Experimente in seinem psychologischen Labor am Krankenhaus von Villejuif suchte, meldete ich mich freiwillig. Thomas befasste sich damals mit dem Unbewussten und dem Auftreten paranormaler Fähigkeiten. Er hatte eine Reihe von parapsychologischen Untersuchungen begonnen, die in derselben Linie standen wie die Experimente, die an manchen amerikanischen Universitäten durchgeführt wurden. Ab Januar 1968 fuhr ich regelmäßig nach Villejuif. Es war eine Enttäuschung: Die Tests waren langweilig – im Wesentlichen bestanden sie darin, die Farben verdeckter Karten zu erraten –, und Thomas war praktisch nie da.
Aber ein paar Monate später bestellte mich der Meister persönlich zu sich, weil meine Ergebnisse statistisch signifikant waren. Thomas fragte mich, ob ich interessiert sei, mit ihm eine Serie weiterentwickelter Experimente durchzuführen, wobei er selbst der Versuchsleiter wäre. Ich weiß nicht, was mir in dem Moment den größeren Schock versetzt hat: die Erkenntnis, dass ich tatsächlich über mediale Fähigkeiten verfügte, oder die Aussicht auf wochenlange Zweisamkeit mit meinem Idol.
Ich stürzte mich Hals über Kopf in die Arbeit. Ich kostete jede einzelne Minute mit ihm aus; inzwischen nannte ich ihn Philippe. Beunruhigend fand ich allerdings seine Einstellung mir gegenüber: Ich hatte den Eindruck, dass er bei mir nach einer bestimmten Kraft suchte, nach einem Phänomen, das ihn faszinierte. Bald begriff ich, dass er selbst glaubte, spezielle Fähigkeiten zu besitzen, und zwar nicht etwa eine außersinnliche Wahrnehmung, sondern eine psychokinetische Kraft. Er hielt sich für fähig, Materie über die Entfernung hinweg zu beeinflussen – insbesondere Metalle. Tatsächlich hatte er das gewünschte Ergebnis ein oder zwei Mal erreicht, aber es war nicht abrufbar: Er konnte nicht darüber bestimmen. Allmählich wurde mir klar, worum es in Wahrheit ging: Er war neidisch auf meine Fähigkeiten.
Dann kam der Mai 68, Philippe und ich standen gemeinsam auf den Barrikaden, und in dieser Zeit wurden wir auch ein Liebespaar. Ich hatte das Gefühl, als hielte ich einen Fleisch gewordenen Traum in den Armen, ein Ideal, das auf einmal einen Körper hatte. Aber gleichzeitig staute sich eine Welle des Terrors zwischen uns auf. In einem einzigen Blick während der Sekunden oder Jahrhunderte, die ein Orgasmus dauert, sah ich den Hass in seinem Blick aufblitzen.
Was eigentlich passierte, habe ich erst später begriffen. Thomas war ein Theoretiker, jemand, der sich selbst als eine Quelle von Ideen, erhabenen Ambitionen, spirituellen Kräften sah. Und jetzt holte ich ihn in seine normale Realität zurück: Er war bloß ein Mann, und er war besessen von meinem Körper. In seinen Augen war ich der Grund seines Absturzes, seines Scheiterns. Ein fatales Objekt der Begierde.
Die Revolte dauerte nur ein paar Wochen. Dann kehrten die Arbeiter in die Fabriken zurück und die Studenten in die Vorlesungen. Thomas ließ jede Hoffnung auf eine revolutionäre Aktion in Europa fahren. Manche unserer einstigen Genossen hatten es satt und gaben das politische Engagement auf, andere hingegen stiegen erst recht ein, nämlich in den bewaffneten Kampf, und wurden Terroristen. Philippe dachte sich ein anderes Projekt aus: nach Osten auswandern, in die Sowjetunion, die Mutter aller kommunistischen Länder, um das System, das er so lange und vehement
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