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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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eingestellt hatte, dass sie Lucien sehen konnte. Er schlief reglos in seinem Kindersitz.
    Sie konzentrierte sich auf die Straße. Wie immer war sie an der Porte d’Auteuil auf die Umgehungsautobahn eingebogen und fuhr jetzt auf die Porte Maillot zu. Es war ein Umweg, aber Diane zog es vor, das Straßengewirr im sechzehnten Arrondissement zu vermeiden. Tausendmal hatte ihr Stiefvater versucht, ihr den Weg zu erklären, tausendmal hatte sie darauf verzichtet, die labyrinthischen Windungen zu begreifen. Woraufhin Charles in sein sonores Gelächter auszubrechen pflegte und aufgab.
    Charles.
    Was hatte dieser Kuss zu bedeuten? Sie verscheuchte die Erinnerung daran, spie sie regelrecht aus, und beugte sich vor, um die regengepeitschte Straße besser zu sehen. Warum hatte er das getan? War das nur eine seiner Schrullen, Teil irgendeiner Rolle, die er glaubte übernehmen zu müssen? Nein, dieser Kuss hatte mit seinen üblichen Koketterien nichts zu tun. Er bedeutete etwas anderes. Im Übrigen war es das erste Mal, dass er sich ihr in dieser Weise näherte.
    In Sturzbächen schwappte der Regen über die Scheibe. Die Scheibenwischer arbeiteten auf Hochtouren, doch vergeblich – Diane sah so gut wie nichts. Wieder blickte sie in den Rückspiegel. Lucien schlief noch immer selig. Das Licht der Natriumdampflampen zog in gelben Streifen über sein Gesicht. Der Anblick beruhigte sie. Dieser kleine Junge war fortan ihr Schicksal, er verlieh ihr eine Kraft, die sie sich nicht zugetraut hätte. Nichts anderes zählte mehr in ihrem Leben.
    Als sie den Blick wieder auf die Straße richtete, stockte ihr der Atem.
    Direkt vor ihr, in der Wasserwand des Wolkenbruchs, tauchte ein Lastwagen mit Anhänger auf, der quer über die vier Fahrbahnen schlingerte und offensichtlich die Kontrolle verloren hatte.
    Diane trat auf die Bremse. Der Laster rammte die Leitplanke auf dem Mittelstreifen, riss mit einem schrillen Kreischen einzelne Blechteile ab und wurde mit Wucht zurückgeschleudert, während der Anhänger sich quer stellte. Die Fahrerkabine vollführte eine Dreivierteldrehung und prallte von neuem gegen die Leitplanke, diesmal mit der rechten Seite. Ein blechernes Dröhnen übertönte den Lärm des Regens, Funkengarben sprühten, während die Scheinwerfer des Ungetüms durch den Regen fegten.
    Diane wollte schreien, aber der Schrei blieb ihr in der Kehle stecken. Sie stand mit dem Fuß auf der Bremse, doch statt zu verlangsamen, schoss der Wagen wie ein Blitz vorwärts. Diane war wie gelähmt. Die Räder hatten blockiert und rasten ohne Bodenhaftung mit voller Geschwindigkeit dahin. Das Ungetüm vor ihr drehte sich unterdessen um die eigene Achse.
    Der Toyota war nur noch wenige Meter von ihm entfernt. Diane versuchte mit mehrmaligem kurzem Antippen des Bremspedals das Aquaplaning zu beenden – doch es war zwecklos, der Wagen fuhr stur geradeaus. Dieser Augenblick schien kein Ende zu nehmen.
    Sie sah sich schon gegen die Blechwand prallen, sah sich sozusagen durch den Aufprall hindurchfliegen. Sah sich durch das Metall brechen und sich im Fahrgestell des Lastwagens verkeilen. Sah sich tot, zermalmt, zerschmettert in einem Meer von Blut, Fleisch, Eisenteilen.
    Endlich drang ein Aufschrei aus ihrer Kehle, und sie riss im letzten Augenblick jäh das Steuer nach links.
    Der Wagen rammte die aufgerissene Leitplanke. Der Zusammenstoß nahm ihr den Atem. Ihr Kopf schlug gegen den Rückspiegel, und es wurde ihr schwarz vor den Augen, während im selben Moment ein gleißendes Licht in ihrem Inneren aufflammte.
    Eine Weile verging. Ein Orgelpunkt, herausgelöst aus der Zeit. Diane hustete, würgte, spuckte blutigen Schleim. Dumpf begriff sie – begriff ihr Körper: Sie lebte noch.
    Sie schlug die Augen auf. Das durchsichtige Gebilde, das ihr entgegenragte, war nichts anderes als die durch die Verformung der Karosserie zusammengedrückte Windschutzscheibe. Sie versuchte den Kopf zu bewegen und löste damit ein Geriesel von Glasscherben aus. Ihr Nacken war in der Hecktür eingeklemmt, die abgerissen und wie ein Halseisen auf ihren Schultern gelandet war. Durch den Schmerz fühlte Diane eine neue Furcht in sich aufsteigen. Etwas stimmte nicht: Die Windschutzscheibe war nicht gesprungen. Woher stammten die Glasscherben?
    Ihr erster bewusster Gedanke galt Lucien. Sie blickte zurück, und es verschlug ihr den Atem: Der Kindersitz war leer.
    Wo Lucien gewesen war, lagen Tausende winziger Glasscherben auf dem Rücksitz, durchsetzt mit Blutspuren. Durch

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