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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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die geborstene Scheibe drang der Regen herein und durchnässte den Bezug des Kindersitzes mit den aufgedruckten Bären. Mit zerkratzten Händen tastete Diane nach ihrer Brille, fand sie mit gesprungenen Gläsern und setzte sie auf, und sie bestätigte ihr die schlimmsten Befürchtungen: Der Junge war nicht mehr im Wagen. Die Kollision hatte ihn durch die hintere Scheibe auf der Beifahrerseite hinausgeschleudert.
    Mühsam löste Diane ihren Sicherheitsgurt. Mit der Schulter stemmte sie sich gegen die Tür und befreite sich. Draußen stürzte sie der Länge nach in eine Pfütze und riss sich dabei an einer Kante der Leitplanke die Jacke auf. Trotz ihrer Verwirrung nahm sie nasses Gras und den Geruch von verbranntem Fett wahr. Sie rappelte sich auf und ging hinkend auf die Straße zu. Scheinwerfer zerrissen die Nacht. Huptöne überlagerten schreiende, zeternde Stimmen. Sie konnte nichts Genaues erkennen. Mit Ausnahme von Benzinpfützen auf der Straße, die unter den Lichtern von Autos und Laternen wie regenbogenfarbene Scherben schillerten.
    Sie wankte, als sie endlich die Einzelheiten der Apokalypse wahrnahm. Den Lastwagen, der sich wie ein umgekehrtes V über die gesamte Breite der Ringstraße erstreckte. Das grelle Firmenzeichen auf der regengepeitschten Plane. Der Fahrer, der aus der Kabine stolperte und sich mit beiden Händen den Kopf hielt, die Arme blutüberströmt. Aber Lucien sah sie nicht. Nirgends die geringste Spur von ihm.
    Sie ging noch weiter, auf den Anhänger zu. Nach ein paar Schritten blieb sie stehen wie angewurzelt. Sie hatte einen Schuh von Lucien entdeckt, einen roten Tennisschuh, und dann, ein paar Meter weiter, sah sie ihn selbst. Das war er. Direkt unter der Kupplung des Lastzugs, eingeklemmt unter der Hydraulik des Anhängers, halb verdeckt von herausgerissenen Kabeln und austretenden Dampfwolken. Diane erkannte jetzt alle grausamen Einzelheiten. Den kleinen Schädel, der in einer dunklen Lache lag, den Körper, der bis zur Mitte unter Blechteilen steckte, die warme Wolljacke, getränkt von Regen und Benzin … Diane nahm ihre letzten Kräfte zusammen und ging auf ihn zu.
    »Gehen Sie nicht hin …«
    Eine Hand hielt sie auf.
    »Gehen Sie nicht hin. Sie sollten sich das nicht ansehen.«
    Diane musterte den Mann verständnislos. Links von ihr ertönte eine zweite Stimme: »Sie können ohnehin nichts mehr für ihn tun …«
    Unter dem prasselnden Regen lösten sich die Töne auf. Sie erfasste den Sinn der Worte nicht. Eine dritte Stimme erhob sich: »Ich habe alles mit angesehen … Du lieber Himmel … Dass Ihnen nichts passiert ist, grenzt an ein Wunder … Offenbar hat Sie der Gurt gerettet …«
    Nun begriff Diane auf einmal, was das bedeutete. Sie schüttelte die Hände ab, die sie halten wollten, und wankte zu ihrem Wagen zurück. Sie umrundete das Fahrzeug und stützte sich an der heißen Karosserie ab, bis sie bei der rechten hinteren Tür des Toyota angelangt war. Mit aller Kraft zog sie am Türgriff und brachte sie schließlich auf, beugte sich hinein und betrachtete den von Glasscherben übersäten Kindersitz.
    Unversehrt lag der Gurt neben dem Sitz.
    Diane hatte den Jungen nicht angeschnallt.
    Aus Nachlässigkeit hatte sie ihr Kind umgebracht.
    In ihren Eingeweiden brach ein tobender Sturm los. Zuckende Blitze. Ein Abgrund elektrischer Spannung.
    Der Boden hob sich ihr entgegen: Sie fiel auf die Knie.
    Sie hatte keinen Gedanken, kein Bewusstsein, keine Empfindung mehr. Sie hörte nur noch das dumpfe Hämmern ihrer geballten Fäuste, die ihr auf den Kopf, ins Gesicht schlugen, während Blut und Regen an ihr herabrannen.
     

 
     
KAPITEL 8
     
    Der Raum auf der Intensivstation war auf drei Seiten verglast und ging auf einen Flur hinaus, der seinerseits von den gläsernen Wänden der anderen Räume gebildet wurde. Diane saß im Dunkeln. Sie trug einen Kittel und eine papierne Haube samt Gesichtsmaske und starrte vollkommen reglos auf das verchromte Bett. Als stünde sie in seiner Gewalt. In der Gewalt dieses von Kabeln und Apparaten gespickten metallenen Bettgestells, in dem Lucien lag.
    Aus dem Mund des Kindes ragte ein Intubationsschlauch, der mit einem Beatmungsgerät verbunden war. In seiner rechten Hand steckte eine Infusionskanüle, die elektronisch gesteuert wurde und damit, wie man ihr erklärt hatte, rund um die Uhr auf den Milliliter und die Sekunde genaue Injektionen erlaubte. In seinem linken Arm maß ein Katheter den Blutdruck, während eine in der Dunkelheit rubinrot

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