Der steinerne Kreis
leuchtende Klemme an einem Finger seine Reaktion auf die »Sauerstoffsättigung« ermittelte.
Irgendwo unter der Bettdecke, unsichtbar für Diane, hafteten Elektroden an seinem Körper und überwachten den Herzschlag. Ebenfalls nicht zu sehen – zum Glück – waren die beiden Dränageschläuche, die unter dem dicken Kopfverband herausragten. Reflexartig wanderten ihre Augen zu dem Bildschirm, der links vom Bett hing. In leuchtendem Grün kündeten Wellenlinien und Zahlenangaben von den physiologischen Aktivitäten des Organismus, dessen Gehirn im Koma lag.
Diane betrachtete den Bildschirm und dachte an eine Kapelle. An einen Ort der Sammlung und Andacht, an die brennenden Kerzen vor den Heiligenbildern, dem Tabernakel … Diese Leuchtkurven und Ziffern, das waren ihre Kerzen. Votivlichter, in die sie all ihre Hoffnung, ihre Gebete legte.
Beinahe jede Minute des Tages verbrachte sie in diesem Zimmer auf der neurochirurgischen Kinderstation der Necker-Klinik. Seit dem Unfall hatte sie praktisch nicht geschlafen und nicht gegessen. Sie hatte jedes Beruhigungsmittel abgelehnt. Sie tat nichts anderes, als wieder und wieder ihre Erinnerungen abzuspulen – alles, was sich nach der Kollision ereignet hatte, jede Minute, jedes Detail.
Das Eintreffen des ersten Rettungswagens unterbrach ihre rasende Verzweiflung.
Erst in diesem Augenblick hörte sie auf, sich zu schlagen, und starrte dem Feuerwehrauto entgegen, das sich mit heulenden Sirenen einen Weg durch das Chaos der aufgestauten Wagen bahnte. Rot. Chromblitzend. Bestückt mit eisernen Apparaturen. Uniformierte Feuerwehrmänner sprangen heraus, während sich auf der Standspur bereits ein Polizeiauto näherte. Die Feuerwehr kümmerte sich um den Verkehr. In phosphoreszierenden orangeroten Jacken sperrten die Beamten die Fahrbahnen ab und lenkten den Strom der Autos auf die äußerste rechte Spur – die einzige, die der Lastwagen mit Anhänger nicht blockierte.
Diane hatte sich aufgerichtet und stand neben ihrem Toyota. Die Feuerwehrleute stießen sie grob beiseite und begannen sofort, ihren Wagen mit Schaum zu besprühen. Diane stand verstört herum und fühlte sich umringt von einer immer zahlreicheren Menge von Autofahrern, raunenden Stimmen und dem Prasseln des Regens. Aber sie hörte nichts als ihre eigenen Worte, die auf sie einhämmerten: Ich habe mein Kind umgebracht. Ich habe mein Kind umgebracht …
Sie drehte sich zu dem Lastwagen um und erblickte zwischen den kapuzenverhüllten Gestalten, die der Lichtschein aus dem Tunnel beleuchtete, einen Mann in Lederkluft, der von der Stelle kam, wo ihr Kind eingequetscht war. Instinktiv ging sie auf ihn zu. Der Feuerwehrmann beugte sich in die Kabine seines Fahrzeugs und griff nach dem Funkgerät. Als Diane nur noch wenige Meter von ihm entfernt war, hörte sie ihn ins Mikrofon rufen:
»Einsatzleitung, Porte de Passy, der aktuelle Stand … Wo bleibt der Notarzt, verdammt!«
Durch den nadelscharfen Regen trat sie näher. Der Mann brüllte: »Es gibt ein Opfer. Ein Kind. Ja … Es atmet noch, aber …«
Der Feuerwehrmann beendete den Satz nicht, sondern warf das Funkgerät in den Wagen zurück und stürzte auf die Ambulanz zu, die in diesem Moment aus dem Regen auftauchte. Diane erkannte die phosphoreszierenden Buchstaben an der Seite: SAMU de Paris, SMUR, Necker 01 . Ein Ruck ging durch alle Fasern ihres Körpers. Noch eine Sekunde zuvor war sie dahingetrieben, versteinert und leer, wie tot. Jetzt nahm sie jedes Detail auf und sah mit rasendem Herzen, wie die Sanitäter vom Notfall-Rettungsdienst mit großen Rucksäcken herbeieilten. Eine Hoffnung. Es gab eine Hoffnung!
Sie heftete sich an ihre Fersen und kam so unbemerkt an der Reihe der Polizisten vorbei. Sie drückte sich dicht an die Fahrerkabine des Lastwagens. Auf dem Asphalt hatte sich ein riesiger Teppich aus Öl und Benzin gebildet, dem der Regen nichts anhaben konnte. Darüber waberten Benzindämpfe im orangegelben Licht. Die Männer beugten sich alle über dieselbe Stelle. Von ihrem Kind sah Diane nichts mehr.
Sie trat näher und zwang sich, genau hinzusehen. Sie zitterte am ganzen Leib, doch eine innere Kraft hielt ihren Blick im Bann, und schließlich entdeckte sie die schmächtige Gestalt. Ihre Beine gaben nach, als sie den verletzten Kopf in einer Blutlache liegen sah. Zwischen ausgerissenen Haaren erkannte sie eine sichelförmige Wunde, klaffend und blutig rot. Sie fiel auf die Knie nieder, und in dieser Stellung sah sie einen Mann, der
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