Der steinerne Kreis
loslegen oder nicht?«
Der Arzt hob den Blick zu dem gepolsterten Feuerwehrmann. »Nein«, sagte er, »ihr könnt nicht loslegen. Wir müssen auf den Kinderarzt warten.«
»Ausgeschlossen.« Der Feuerwehrmann deutete auf die schillernde Benzinlache auf dem Asphalt. »In einer Minute können wir alle …«
»Ich bin schon da.«
Eine weitere Gestalt war unter die Plane geschlüpft. Zerzaust, bleich, noch abgerissener als der Notarzt. Die beiden Ärzte führten einen schwer verständlichen Dialog voller Fachbegriffe. Währenddessen beugte sich der Kinderarzt über Lucien und öffnete seine Lider.
»Verdammt«, sagte er.
»Was ist?«
»Mydriasis. Die Pupillen sind erweitert.«
Ein kurzes Schweigen trat ein. Der Feuerwehrmann machte kehrt und ging davon. Die mechanischen Geräte rückten unerbittlich näher.
»Okay«, sagte der Kinderarzt schließlich. »Generelle Sedierung. Pentobarbital. Wo ist das Funkgerät?«
Während der Notarzt und die Sanitäter zugange waren, griff er nach dem Funkgerät und brüllte nun ebenfalls ins Mikrofon: »Neue Meldung über den aktuellen Stand. Bereiten Sie die Operation in der Neurochirurgie vor. Verdacht auf epidurales Hämatom. Ich wiederhole: SHT in einer Gehirnhälfte.« Er lauschte. »Es liegen ein Schädel-Hirn-Trauma und eine Kontusion vor …«
Wieder lauschte er eine Weile. »Was weiß denn ich! Die Mydriasis ist jedenfalls schon eingetreten. Verdammt, es ist ein Kind! Noch nicht mal sieben! Daguerre. Holen Sie Daguerre zur Operation. Keinen anderen!«
Der Feuerwehrmann tauchte wieder auf. Der Notarzt gab ihm ein kurzes Zeichen der Zustimmung. Innerhalb weniger Sekunden begann eine andere Prozedur. Die Sanitäter deckten das Kind mit Filzdecken und Kissen ab, ein Stück weiter schoben sich die Schneiden der Spreizer unter das Fahrgestell des Lastwagens.
»Sie müssen hier weg«, murmelte der Notarzt Diane zu.
Geistesabwesend sah sie ihn an, dann nickte sie wie betäubt. Das Letzte, was sie von Lucien sah, war seine schmale Gestalt, umgeben von Planken und Decken, die Augen geschützt von einer Brille aus Stoff.
Ein ohrenbetäubendes Pfeifen erfüllte das Zimmer. Diane fuhr auf. Beinahe sofort erschien eine Krankenschwester. Ohne einen Blick auf die junge Frau hängte sie einen neuen Beutel Kochsalzlösung an den Metallständer und verband ihn mit der Injektionskanüle.
»Wie spät ist es?«
Die Schwester drehte sich um. »Wie spät ist es?«, wiederholte Diane.
»Einundzwanzig Uhr zehn. Ich dachte, Sie seien schon weg, Madame Thiberge.«
Diane antwortete mit einer unbestimmten Kopfbewegung, dann schloss sie die Augen, doch sofort begannen ihre Lider zu brennen, als wäre ihr jede Minute Schlaf untersagt. Als sie die Augen wieder öffnete, war die Schwester verschwunden.
Wieder riss sie die Erinnerung aus der Gegenwart fort.
»Wollen Sie nicht lieber in mein Büro gehen?«
Diane sah den Arzt Eric Daguerre an, der vor dem Leuchtkasten stand und die daran befestigten Röntgenaufnahmen und CT-Bilder von Luciens Schädel betrachtete. Die Bilder warfen ein bläuliches Muster auf das Gesicht des Chirurgen.
Sie schüttelte den Kopf und fragte tonlos: »Wie ist die Operation verlaufen?« Über drei Stunden hatte der Eingriff gedauert.
Der Arzt steckte die Hände in die Kitteltaschen. »Wir haben getan, was wir konnten.«
»Bitte, Herr Doktor. Geben Sie mir eine präzise Antwort.«
Daguerre sah sie ernst an. Von allen Seiten hatte sie gehört, er sei der beste Neurochirurg der Necker-Klinik. Ein Virtuose, der schon Dutzende von Kindern aus einem scheinbar hoffnungslosen Koma zurückgeholt hatte.
»Bei dem Unfall kam es zu einem Schädel-Hirn-Trauma, genauer gesagt: einem epiduralen Hämatom«, begann er. »Das heißt, zu einer Blutung zwischen Gehirnhaut und Schädelknochen, und zwar in der rechten Gehirnhälfte.« Er deutete auf einen Bereich in der Röntgenaufnahme. »Wir haben den Schädel an der Schläfe geöffnet, um zu der Blutung vorzudringen. Wir haben das Gerinnsel abgesaugt und den gesamten Bereich koaguliert, um die Blutung zu stoppen. Das nennt man Hämostase. Dann haben wir den Schädel wieder geschlossen und eine Dränage gelegt, um das Wundsekret und das restliche Blut abzuleiten. In dieser Hinsicht ist alles bestens verlaufen.«
»In dieser Hinsicht?«
Daguerre wandte sich wieder dem Leuchtkasten zu. Unmöglich zu sagen, wie alt er war – irgendetwas zwischen dreißig und fünfzig. Sein Gesicht mit den scharfen Zügen war von extremer
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