Der steinerne Kreis
Blässe, doch seine Hautfarbe wirkte nicht krank, im Gegenteil – es war wie ein inneres Leuchten, als verbreitete er einen hellen Schein. Mit dem Zeigefinger klopfte er auf die Hirnschale.
»Lucien hat noch ein weiteres Trauma erlitten. Eine bilaterale Contusio, das heißt eine beidseitige Gehirnprellung, gegen die wir nicht viel tun können.«
»Soll das bedeuten, dass bestimmte Gehirnregionen verletzt wurden?«
Der Chirurg zuckte die Achseln. »Das lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt unmöglich sagen. Unser Problem ist momentan ein ganz anderes. Wie jeder andere Körperteil neigt auch das Gehirn dazu, infolge eines Traumas, also einer Verletzung durch äußere Gewalteinwirkung, anzuschwellen; wir sprechen dann von einem posttraumatischen Hirnödem. Die Hirnschale ist jedoch geschlossen und lässt keine Ausdehnung zu. Wird das Gehirn durch die Schädeldecke gequetscht und gerät folglich unter zu großen Druck, fallen nach und nach sämtliche Hirnfunktionen aus, und es kommt zum Hirntod.«
Diane stützte sich am Schreibtisch ab. Wieder fiel das bläuliche Licht, das durch die Abzüge schimmerte, auf das Gesicht des Arztes. Auf einmal wurde sie sich der schier unerträglichen Hitze im Raum bewusst.
»Kann … kann man da nichts machen?«
»Wir haben eine zweite Dränage gelegt, die uns erlaubt, den Hirndruck ständig zu überprüfen. Falls er weiter ansteigt, öffnen wir die Röhre und saugen ein paar Milliliter Gehirn-Rückenmark-Flüssigkeit ab. Das ist die einzige Möglichkeit, dem Organ Erleichterung zu verschaffen.«
»Aber das Gehirn kann doch nicht endlos anschwellen?«
»Nein. Die Krisen werden nachlassen und schließlich ganz aufhören. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass der Körper sie übersteht, bis die Lage sich normalisiert.«
»Herr Doktor, seien Sie ehrlich: Kann Lucien … wird er darüber hinwegkommen? Aus dem Koma aufwachen?«
Wieder ein unbestimmtes Achselzucken.
»Wenn der Hirndruck rasch abnimmt, stehen die Chancen gut. Geht die Schwellung jedoch nicht zurück, können wir nichts tun. Dann ist der Hirntod unausweichlich.«
Sie schwiegen beide.
»Man muss abwarten«, sagte Daguerre schließlich.
Diane wartete seit neun Tagen.
Seit neun Tagen kehrte sie abends nach Hause zurück, um eine Einsamkeit gegen eine andere einzutauschen, und die Unordnung in ihrer Wohnung in der Rue Valette nahe der Place du Pantheon warf ihr nur noch das Bild ihrer eigenen Verlorenheit zurück.
Sie durchquerte den zentralen Innenhof des Klinikums. Mit ihren Gebäuden, Läden, der Kapelle bildete die Anlage eine regelrechte kleine Stadt. Tagsüber herrschte hier eine irreführende Betriebsamkeit, die den Daseinszweck dieser Gebäude – Pflege, Krankheit, Kampf gegen den Tod – beinahe vergessen ließ. Doch nachts, wenn Stille und Einsamkeit um sich griffen, legte sich eine düstere Stimmung über das Gelände; Angst und Sorge, Krankheit und Zerstörung schienen sich seiner zu bemächtigen. Sie schlug den Weg zum Hauptportal ein.
»Diane.«
Sie blieb stehen und kniff die Augen zusammen.
Vor den Leuchtkugeln auf dem Rasen erkannte sie die Gestalt ihrer Mutter.
KAPITEL 9
»Wie geht es ihm?«, fragte Sybille Thiberge. »Kann ich ihn sehen?«
»Mach doch, was du willst.«
Die kleine Gestalt mit dem Heiligenschein ihres zu hellen Knotens schwieg. Dann fragte sie leise: »Was ist los? Bin ich zu spät? Hast du mich früher erwartet?«
Diane starrte auf einen Punkt in weiter Ferne hinter ihrer Mutter. Schließlich holte sie ihren Blick zurück, und während sie Sybille von ihrer Höhe herab musterte – sie überragte sie um gut zwanzig Zentimeter –, sagte sie: »Ich weiß, was du denkst.«
»Was denke ich denn?«
Sybilles Tonfall war eine Spur schärfer geworden.
»Du denkst, ich hätte das Kind nie adoptieren sollen«, erklärte Diane.
»Ich selbst habe dir zu dieser Lösung geraten!«
»Das war Charles.«
»Wir haben gemeinsam darüber gesprochen.«
»Egal. Du denkst, ich wäre nicht nur sowieso unfähig gewesen, ihn großzuziehen und glücklich zu machen, sondern du meinst, ich habe ihn überhaupt direkt umgebracht.«
»Sag das nicht.«
Diane fing auf einmal zu schreien an. »Stimmt es vielleicht nicht? War nicht ich diejenige, die ihn nicht ordentlich angeschnallt hat? Die in die Leitplanke gerast ist?«
»Der LKW-Fahrer war am Steuer eingeschlafen. Das hat er selbst zugegeben. Du kannst nichts dafür.«
»Und der Alkohol? Wenn Charles nicht gewesen
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