Der steinerne Kreis
war, auf die schwach erleuchteten Fenster der Intensivabteilung.
»Wenn du noch Tränen hast, heb sie dir für ihn auf«, sagte sie und wandte sich ab.
Im Davongehen hatte sie das Gefühl, als umhüllte sie das Rauschen der Bäume mit einem unheilvollen Mantel.
KAPITEL 10
Es gab weitere Tage, weitere Nächte.
Diane zählte sie nicht mehr. Ihren Alltag bestimmten allein die piependen Alarmtöne der Intensivstation. Seit der letzten Auseinandersetzung mit ihrer Mutter waren vier weitere Mydriasen aufgetreten. Viermal waren die Pupillen des Kindes weit und starr geworden und hatten das nahe Ende angekündigt. Bei jeder Krise hatten die Ärzte durch die Dränageschläuche ein paar Milliliter Gehirn-Rückenmark-Flüssigkeit abgesaugt und dem geschwollenen Gehirn eine gewisse Erleichterung verschafft. Bisher hatten sie damit das Schlimmste vermeiden können.
Diane hing an den Lippen der Ärzte. Sie analysierte und interpretierte jedes Wort, jeden Tonfall und machte sich zugleich die schwersten Vorwürfe wegen dieser Abhängigkeit. Nur die Fragen, die sie ihnen stellte, bewegten ihren Geist und bohrten sich ununterbrochen in ihren Kopf wie eine unerträgliche Folter. Sie schlief in kurzen Phasen, während deren sie in tiefer Bewusstlosigkeit war, sodass sie manchmal nachher nicht mehr wusste, ob sie wach gewesen war oder geträumt hatte. Mit ihrer Gesundheit ging es steil bergab – aber sie weigerte sich stur, irgendein Medikament einzunehmen. In Wahrheit bescherte ihr diese Kasteiung eine Art Rausch, eine Betäubung ähnlich einer religiösen Verzückung, sodass sie der Notwendigkeit enthoben war, sich der Wahrheit zu stellen: Es gab keine Hoffnung mehr. Lucien verdankte sein Leben nur noch einem Haufen gefühlloser, hochtechnisierter Apparate.
Man brauchte nur einen Schalter umzulegen, um diesem elenden Dasein ein Ende zu machen.
An diesem Tag, gegen drei Uhr nachmittags, ließ ihr Körper sie im Stich. Auf der Treppe zur Intensivstation verlor Diane das Bewusstsein und rutschte ein Stockwerk auf dem Rücken hinunter. Eric Daguerre verabreichte ihr intravenös eine Dosis Glukose und befahl ihr, nach Hause zu fahren und sich auszuschlafen. Ohne Widerrede.
Doch am selben Abend gegen zehn Uhr stieß Diane wieder die Tür zur Intensivstation auf, starrsinnig, zornig, krank – aber anwesend. Ein dumpfes Vorgefühl plagte sie: Sie fühlte Luciens letzte Stunde nahe. Alles schien ihr diese Ahnung zu bestätigen – die stickige Atmosphäre in dem Gebäude, die flackernden Neonlampen im Erdgeschoss, der abwesende Blick eines Pflegers auf dem Flur, den sie vielsagend fand. So viele Zeichen, so viele Vorboten: Der Tod war da, ganz nah, neben ihr.
Als sie den Korridor im zweiten Stock betrat, erblickte sie Daguerre und begriff, dass ihre Ahnung nicht trog. Der Arzt kam auf sie zu. Diane blieb stehen.
»Was ist los?«
Ohne zu antworten, ergriff der Chirurg ihren Arm und führte sie zu einer Sitzreihe an der Wand.
»Setzen Sie sich.«
Sie sank auf einem Stuhl zusammen und fragte flüsternd: »Was ist passiert? Es ist … es ist noch nicht vorbei, oder?«
Eric Daguerre kauerte sich neben ihr nieder, um ihr in die Augen zu sehen. »Beruhigen Sie sich«, sagte er.
Diane starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, doch sie sah ihn nicht. Sie sah überhaupt nichts, nur einen Abgrund der Leere. Es war keine Vision, sondern im Gegenteil das Fehlen jeder Vision, jeder Perspektive. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie nicht mehr imstande, über den Moment hinaus zu denken, die Sekunde zu sehen, die auf die gegenwärtige folgen würde. In Abwesenheit des Lebens gehörte sie selbst schon dem Tod.
»Diane, sehen Sie mich an.«
Sie konzentrierte sich auf das kantige Gesicht des Chirurgen, aber noch immer sah sie nichts. Ihr Gehirn weigerte sich, die eintreffenden Netzhautreize zu analysieren. Der Arzt ergriff ihre Handgelenke, und sie ließ es geschehen – sie hatte nicht einmal mehr die Kraft zu ihrer Phobie.
»Heute Nachmittag, während Sie weg waren«, sagte der Arzt leise, »hatte Lucien zwei weitere Mydriasen. Innerhalb von knapp vier Stunden.«
Diane war vom Donner gerührt. Alle Gliedmaßen waren gelähmt, erstarrt unter der Wucht des Schreckens. Nach einer Minute des Schweigens fügte der Arzt hinzu: »Es tut mir leid.«
Diesmal gelang es ihr, den Blick scharf zu stellen und den Chirurgen zu fixieren. Durch ihren Zorn hindurch starrte sie ihn an. »Er ist aber noch nicht tot, oder?«
»Sie
Weitere Kostenlose Bücher