Der steinerne Kreis
wäre und das Ergebnis des Alkoholtests hätte verschwinden lassen, dann säße ich überhaupt schon im Knast!«
»Du lieber Himmel, schrei doch nicht so.«
Diane senkte den Kopf und betastete den Verband um Stirn und Schläfen. Sie war der Ohnmacht nahe. Hunger und Erschöpfung höhlten das Fundament ihres Gleichgewichts aus. Ohne ein Wort zu ihrer Mutter steuerte sie auf das Hauptportal zu, doch nach ein paar Schritten machte sie jäh kehrt und sagte: »Eins sollst du wissen.«
»Was?«
»An dieser ganzen Misere bist du schuld.«
Sybille verschränkte die Arme, bereit zur Auseinandersetzung.
»Du machst es dir aber sehr einfach«, sagte sie.
Diane hob von neuem die Stimme. »Hast du dich nie gefragt, wieso es mir dermaßen beschissen geht? Warum mein Leben ein einziger Fehlschlag ist?«
Sybille verfiel in einen ironischen Tonfall. »Aber nein, natürlich nicht«, sagte sie. »Ich sehe, wie es meiner Tochter seit fünfzehn Jahren immer schlechter geht, aber das ist mir vollkommen egal. Ich schleppe sie zu sämtlichen Psychologen der Stadt, aber natürlich nur, um den Schein zu wahren. Ich mühe mich ab, mit ihr ins Gespräch zu kommen, sie zum Reden zu bringen, aber nur, damit ich selber ein ruhiges Gewissen habe.« Nun schrie sie ebenfalls: »Seit Jahren versuche ich herauszufinden, was mit dir los ist, aber du schweigst und schweigst und schweigst! Wie kannst du jetzt so was behaupten?«
»Man sieht den Splitter im fremden Aug, aber nicht den Balken im eigenen«, antwortete Diane feixend.
»Wie bitte?«
»Kehr vor deiner eigenen Tür!«
Wieder trat ein Schweigen ein. Im Dunkeln raschelte das Laub der Bäume, Sybille knetete ihren Haarknoten, was bei ihr ein Zeichen der Ratlosigkeit war.
»Genug der Andeutungen, meine Liebe«, sagte sie in entschiedenem Ton. »Sag mir, was los ist.«
Diane empfand einen plötzlichen Schwindel. Sollte die Vergangenheit auf einmal ans Licht kommen?
»Du bist schuld an meinem Elend«, flüsterte sie. »Dein Egoismus, deine irrsinnige Verachtung gegenüber allem, was nicht so ist wie du …«
»Und das wirfst du mir einfach so hin. Ich habe dich allein aufgezogen …«
»Ich spreche von deinem wahren Wesen. Nicht von der Rolle, die du nach außen hin spielst.«
»Was weißt du von meinem wahren Wesen!«
Diane hatte das Gefühl, einem glühenden Draht zu folgen, aber sie sprach weiter: »Ich habe den Beweis für das, was ich sage …« Sie verstummte. Eine Sekunde verging.
Sybilles Ton klang alarmiert, und ihre Stimme bebte, als sie sagte: »Den … Beweis? Was denn für einen Beweis?«
Diane sprach betont langsam: Nicht eine Silbe sollte verloren gehen. »Die Hochzeit von Nathalie Ybert, im Juni 1983. An dem Tag ist es passiert.«
»Ich verstehe überhaupt nichts. Was ist passiert? Wovon sprichst du?«
»Du erinnerst dich nicht? Das wundert mich nicht. Einen Monat lang haben wir uns darauf vorbereitet, es war von nichts anderem die Rede. Aber kaum dort angekommen, verschwindest du irgendwohin und lässt mich stehen, allein, mit meinem Festkleid, meinen schönen Schuhen, meinen Jungmädchenträumen …«
Sybille hörte mit ungläubiger Miene zu. »Ich erinnere mich kaum noch …«
Diane spürte, wie etwas in ihr zerbrach. Die Tränen stiegen ihr in die Augen, doch sie unterdrückte sie augenblicklich.
»Du hast mich im Stich gelassen, Mama. Du bist mit irgendeinem Kerl weggegangen …«
»Mit Charles. Ich habe ihn an dem Abend kennengelernt.« Ihr Ton wurde wieder schärfer. »Hätte ich dir zuliebe für immer auf ein Privatleben verzichten sollen?«
Doch Diane wiederholte stur: »Du hast mich im Stich gelassen. DU HAST MICH GANZ EINFACH IMMER NUR IM STICH GELASSEN!«
Sybille zögerte kurz, dann trat sie mit ausgebreiteten Armen näher.
»Hör doch«, sagte sie in verändertem Ton. »Das wusste ich ja nicht. Wenn es dich so sehr gekränkt hat, dann bitte ich dich um Verzeihung. Ich …«
Diane machte einen Satz zurück. »Fass mich nicht an«, schrie sie. »Mich fasst keiner an!«
Nun war ihr endgültig klar, dass sie ihrer Mutter nie etwas erzählen würde. Nie würde die Wahrheit die Barriere ihrer Lippen überwinden.
»Vergiss es«, befahl sie.
Sie fühlte sich härter als Stahl, umgeben von einem Kraftfeld. Das war das einzig Gute an der ausgestandenen Tortur: Leid und Angst hatten sich nach und nach in kalten Zorn und Selbstbeherrschung verwandelt. Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf den Trakt, in dem die kinderchirurgische Station untergebracht
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