Der steinerne Kreis
verstehen mich nicht. Lucien hat nun sechsmal die Symptome des Hirntods gezeigt. Er kann nicht ins Bewusstsein zurückkehren. Und selbst wenn wir von einem Wunder ausgehen, nämlich den Anzeichen eines Erwachens, wären die Konsequenzen zu einschneidend. Sein Gehirn ist zwangsläufig schwer beschädigt, verstehen Sie? Das kann man ihm nicht wünschen: Er würde nur noch dahinvegetieren.«
Diane starrte Daguerre stumm an, und auf einmal wurde sie sich der Schönheit seines Gesichts bewusst, die sie nie wahrgenommen hatte. Ihre Stimme bebte vor Zorn, als sie sagte: »Sie wollen, dass er stirbt, ist es das?«
Der Arzt stand auf. Auch er zitterte.
»So werden Sie nicht mit mir reden, Diane. Nicht mit mir! Ich kämpfe Tag und Nacht um das Leben der Kinder. Ich stehe auf der Seite des Lebens.« Er deutete auf den gläsernen Flur hinter der Glastür. »Wir alle kämpfen um das Leben! Unterstellen Sie uns nicht, wir wünschten den Tod herbei!«
Sie ließ den Kopf in den Nacken sinken und schloss die Augen. Ihr Schädel schlug dumpf an die Wand. Einmal, zweimal, dreimal. Die Hitze nahm ihr den Atem. Das gleißende Licht, grell selbst noch durch geschlossene Lider, schmerzte in ihren Augen. Sie spürte, wie sich ein schwarzes Loch unter ihr öffnete und ihr Körper in die Tiefe stürzte, während ihr Verstand auch diese gescheiterte Hoffnung zur Kenntnis nahm.
Mit letzter Willenskraft gelang es ihr, aufzustehen. Ohne ein Wort griff sie nach ihrer Tasche und ging auf die Intensivstation zu.
Die Station der reglosen kleinen Körper.
Hinter der Tür war der Flur menschenleer.
Diane betrat Luciens Zimmer, riss sich die Brille vom Gesicht und fiel auf die Knie. Am Fußende des Bettes barg sie den Kopf in der Decke und brach in Tränen aus, die mit unvermuteter Heftigkeit aus ihr hervorströmten. Zum ersten Mal seit dem Unfall gestand ihr Körper ihr diese Befreiung zu. Alle Spannung wich aus ihren Muskeln, ihre Nerven gaben nach. Das Schluchzen drohte sie zu ersticken, die Trauer zerriss ihr das Herz, doch zugleich spürte sie, wie eine Erleichterung sie überkam, ein dumpfes Jubeln, wie eine unheilverkündende Blume, die ihr das nahe Ende verhieß.
Sie wusste, dass sie Luciens Tod nicht überleben würde. Dieses Kind war ihre letzte Chance gewesen. Wenn er starb, wollte sie nicht weiterleben. Oder sie würde den Verstand verlieren. So oder so war es mit ihr vorbei.
Auf einmal spürte sie die Gegenwart einer Person. Sie hob den Kopf und starrte mit tränenblinden Augen in die Dunkelheit. Ohne Brille sah sie nichts, aber sie war sicher: Jemand war im Zimmer.
In dem Moment ertönte eine leise, geheimnisvolle Stimme: »Ich kann etwas für Sie tun.«
KAPITEL 11
Mit dem Ärmel wischte sich Diane die Augen ab und griff nach ihrer Brille. Ein Mann stand im Raum, wenige Meter von ihr entfernt. Sie begriff, dass er schon vor ihr im Zimmer gewesen war. Sie versuchte, wieder zur Besinnung zu kommen.
Der Mann kam näher. Er war ein wahrer Hüne, an die zwei Meter hoch, in einen weißen Kittel gekleidet. Seinen mächtigen Hals überragte ein nicht minder beeindruckender Kopf, gekrönt von einer weißen Mähne. Das trübe Licht, das vom Flur hereinfiel, beleuchtete matt sein Gesicht, das stark gerötet war und die verwischten Züge eines verwitterten Denkmals hatte. Dieses Gesicht verbreitete eine gewisse Sanftmut. Diane bemerkte seine langen, geschwungenen Wimpern.
»Ich kann etwas für Sie tun«, wiederholte er. Er wandte sich dem Kind zu. »Für ihn.«
Seine Stimme war ruhig und friedlich wie sein Gesicht, und er sprach mit einem leichten Akzent. Diane brauchte noch ein paar Sekunden, um sich von ihrer Verblüffung zu erholen. Sie erkannte sein Namensschild am Revers seines Kittels.
»Ach … Sind Sie von der Station?«, fragte sie.
Er kam einen Schritt auf sie zu. Trotz seiner Körperfülle bewegte er sich völlig lautlos.
»Mein Name ist Rolf van Kaen. Ich bin Chefarzt für Anästhesie an der Berliner Kinderklinik der Charité. Doktor Daguerre und ich arbeiten derzeit an einem französisch-deutschen Austauschprogramm. «
Sein Französisch war fließend, poliert wie ein lange in der Tasche getragener Kiesel. Diane stand auf, griff nach dem einzigen Stuhl und ließ sich ungeschickt darauf nieder. Im Flur war keine Krankenschwester zu sehen.
»Was … was tun Sie denn hier?«, fragte sie. »Ich meine – in diesem Zimmer?«
Der Arzt musterte sie nachdenklich; er schien jedes Wort genau abzuwägen.
»Man
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